«A humanist ought to take pride in not being a follower of fashion.» So leitet Walter Kaufmann
eine sein Forschen und Lehren spiegelnde Aufsatzsammlung ein, die er 1976 unter dem Titel
«Existentialism, Religion, and Death» veröffentlichte (New American Library, New York). Der
Titel spricht Bände jedenfalls für jene, die den Sinn seiner Wörter zu interpretieren vermögen.
Das ist nicht mehr selbstverständlich. Warum nicht, erläutert Hans Magnus Enzensberger,
wenn er unsere Zeit als manische Kehre nach einer Phase depressiver Verzweiflung ob der
globalen Probleme, wie sie uns in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts drückten,
deutet: Wir unterliegen einer mit allen Mitteln der Kunst (d. h. des Lobbyismus und der
PR-Industrie) verkündeten neuen Utopie des wissenschaftlich, technisch und industriell beigebrachten Heil, ja der Unsterblichkeit. Einem utopischen Prozess, den auch «eine zu allem
entschlossene Minderheit» nicht aufzuhalten vermöchte. Trefflich beschreibt er die Intensität,
mit welcher Vorstellungen, Begriffe und Denkweisen der neuen Leitwissenschaft, der sogenannten «Lebenswissenschaften», das allgemeine Bewusstsein besetzen (vgl. Der Spiegel
23/2001, S. 222). Zunehmend lösen sie moralische Traditionen auf; sie versetzen ethische
Reflexion in Verlegenheit, verweisen sie auf die Position einer nachvollziehenden Legitimationsinstanz für Entwicklungen, welche die Forschung – sie kennt ja, wie wir hier hörten, einen schnelleren Rhythmus als die Politik und sucht eben hieraus sittlich-politische Absolution zu gewinnen – längst vollzogen hat. ‚Tod‘, ‚Religion‘, ‚existenzielle Entscheidung‘ gehören, wenn
überhaupt, nur nebenbei zum Vokabular der Lebenswissenschaften. Der möglichen Tiefe
dieser Ausdrücke vermögen sie nicht gerecht zu werden, umso weniger den von ihnen angesprochenen Phänomenen bzw. Erschütterungen.
Klingt all dies nicht furchtbar negativistisch? Gewiss, insofern es sich gegen nicht allein ver-ständliche, vielmehr berechtigte Hoffnungen und Erwartungen zu wenden scheint. Gewiss nicht, wenn diese Hoffnungen und Erwartungen sich im Rahmen einer umsichtigen Anthro-pologie halten, welche zwar die menschliche Fähigkeit zur Transzendenz und die Sehnsucht nach Erlösung bedenkt, doch ebenso die Grundbedingung der Endlichkeit, welche alles Wünschen, Hoffen und Streben trägt. Humanität, eine Idee, die uns allen als mögliche Erfül-lung menschlichen Daseins vertraut ist und, obwohl zuweilen eher deklamatorisch apostro-phiert, noch breites Ansehen geniesst, lässt sich zureichend nicht einseitig deuten. Sie erfüllt sich in ihren sonnigen Seiten nur auf schattigem Hintergrund. Wird dieser verdrängt, schlägt sie um in jene zerstörerische Utopie, die Enzensberger denunziert.
Woran uns also halten? An jene hier und jetzt aus der Geschichte in die Zukunft ausgreifende Selbstverständigung, die uns geisteswissenschaftliches Forschen und Lehren, aber auch aufgeklärte Sozialwissenschaft immer dann geboten haben und bieten, wenn sie sich an geleb-te Aktualität binden. Wer sich in der hermeneutischen Reflexion umsieht, erfährt rasch, dass dies stets, wenn auch in unterschiedlichem Masse ersichtlich, der Fall ist. Humanistisches Forschen und Lehren ist zwar vor Modischem so wenig gefeit wie vor Irrwegen. Doch unter kritischer Kontrolle in der wissenschaftlichen Gemeinde bleibt es eben jenes Denken, das der Mode nicht verfällt: Quer-Denken, als solches dort unbequem (und nicht subventioniert), wo einäugige Interessen obsiegen.
Die rückhaltlose, auf Wandel zum Guten und Gerechten ausgerichtete Kritik des Modischen, nicht also das Lob der neuen Kleider des Kaisers bringt das wahre Neue. Auf unsere Zeit gewendet: Neu ist nicht, was sich im internationalen Wettbewerb um Güter und Gewinn bewähren soll, denn dieses Neue, soweit durch die Idee der Humanität, also von Solidarität, Gerechtigkeit und Mässigung nicht geläutert, ist das Alte: der biblische Tanz um das Goldene Kalb zum Beispiel. Das Neue wäre die Metanoia, die seit langer Zeit angemahnte Umkehr, an die – unter manch anderem – uns Geistes- und auch Sozialwissenschaften erinnern.
Die Kraft und das Geschick zum Querdenken, die sie vermitteln, werden freilich nicht ge-schenkt. Nur durch Anstrengung lassen sie sich erringen und durch spezifische Bildung, durch Wiederbelebung von Stoffen und Gedankengängen, die zur Zeit als wenig nützlich gelten: «A humanistic education ought to be designed to give us the perspective – or rather the perspectives – to see what is ridiculous in current fads and fashions» (W. Kaufmann).
Die Kulturen, von denen C. P. Snow 1959 sprach, lassen sich nicht trennen, wird Humanität in ihrer Fülle zum Leitbild genommen. Möge diese Einsicht unsere Behörden und Parlament-sangehörigen beflügeln, wenn sie sich in den kommenden Monaten daran machen, den oft erklärten Willen, die Geistes- und die Sozialwissenschaften schwerpunktmässig zu fördern, in die Tat, also auch in entsprechende Kredite und Institutionen umzusetzen. [2001; vgl. Bulle-tin der SAGW 1/2002)]