Das Selbstbewusstsein ändern

Es wäre ungerecht, die vielfältigenund teilweise erfolgreichen Bemühungen um eine Verbesserung der prekären Lage unseres Planeten durch die Technologie zu negieren. Die Bemühungen bleiben aber auf menschliche Interessen zentriert, die als Angelpunkt für jede erfolgversprechende Aktion gelten. Diese Ansicht gründet auf der Vorstellung, die Menschheit sei Herrin über die Natur und diese sei ihr Eigentum. Dieses cartesianische und baconsche Weltbild sieht die nicht menschliche Umwelt als reinen Selbstbedienungsladen an, menschlicher Willkür und menschlichem Gutdünken ausgesetzt.

Tiefenökologie als unerlässliche Quelle für einen Kulturwandel Tatsächlich sieht die Stellung des Menschen in der Welt anders aus. Handlungen, die auf dem Weltbild des Menschen als Herrscher aufbauen, verfehlen notwendigerweise ihr Ziel, nämlich die Bedingungen für blühendes und vielfältiges Leben auf der Erde auf unbegrenzte Zeit zu erhalten. Natürlich muss Umweltethik auch Sozialethik sein, müssen systemische Perspektiven, politische und rechtliche Vorkehren ersonnen werden, um wahrhaft lebensfördernde Systeme aufbauen zu können. Doch all die unerlässlichen Schritte hängen von einem Selbstverständnis, bzw. Selbstbewusstsein sowie von Haltungen ab, die auf einem normativen Wertsystem beruhen, das schon lange zuvor die handelnden Personen geformt hat. Gute und angemessene Taten entspringen guten, wohl erzogenen und informierten Individuen – eine aristotelische Sicht der Dinge, die nach wie vor trifft.

Ein grundlegender Wandel im Denken und Handeln, «Metanoia» in ihrer ursprünglichen und kompromisslosen Bedeutung, ist nötig, soll eine nachhaltige Entwicklung über lange Zeit ehrlich angestrebt werden. Ich möchte gleich zu Beginn ein weit verbreitetes Missverständnis ausräumen. Ein Einstehen für Tiefenökologie bedeutet in keiner Weise, die Bestrebungen um
eine bessere Welt durch wissenschaftlicheund technische Errungenschaften gering zu schätzen. Die Tiefenökologie liefert aber die Richtung für die Anwendung der Erkenntnisse, da wissenschaftliches und technisches Wissen in sich weder das Ziel noch den Zweck enthält, dem es dienen soll.

Umsichtige und sorgfältige Anwendung von Wissen und Technologie ist ein Ausdruck von Kultur, in erster Linie von moralischen und politischen Entscheidungen, die auf einer wertebasierten Weltsicht beruhen. Die heutige Weltsicht, welche die massgeblichen wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlichenund technologischen Entscheide leitet, scheint direkt auf die Zerstörung der lebensfördernden Bedingungen in der Natur hinauszulaufen, wobei Natur hier als die Gesamtheit aller lebenden wie nicht lebenden Wesen in dieser Welt zu verstehen ist.

Um vom Weg der Zerstörung abzukommen, ist Metanoia eine unerlässliche Bedingung für jeden Erfolg versprechenden Ansatz zu einer gesicherten Zukunft. Das bedeutet auch das Hinterfragen des magischen Dreiecks, das der Brundtland-Report propagiert. Ökonomische, soziale und ökologische Interessen können nicht gleichwertig sein; letztere müssen von der Sache her und aus Erfahrung massgebend sein.

Metanoia verlangt nach einer kritischen Analyse der bedeutenden Interessen und deren Ersatz durch persönliches, soziales und institutionelles Engagement für das, was traditionell Gemeinwohl heisst. Doch über das Herkommen hinausist die Gemeinschaft, die heute auf
dem Spiel steht, nicht nur die ideale Menschengesellschaft. Sie umfasst auch alle anderen lebenden und nicht lebenden Wesen mit denen die Menschen die Erde teilen.

Eine Skizze für ein nachhaltiges Ethos

Wenn lebensförderliche natürliche und gesellschaftliche Bedingungen erhalten werden sollen, muss ein Ethos weltweit verbreitet und gelehrt werden, das zahlreiche Autoren bereits ausgearbeitet und weiterentwickelt haben. Was folgt, kann als Zusammenfassung der gemeinsamen Überzeugungen gelten. Intuitionen sind wichtig, es gibt aber auch zwingende Schlüsse, gezogen aus sorgfältiger Beobachtung und offen deklarierten Werten. Damit wird dieses Ethos bewusst der Kritik zugänglich gemacht.

Die Menschen sollten sich nicht als Herrscher über die Erde verstehen, die nur da ist, ihnen zu dienen. Sie leben in einer Welt, die geprägt ist durch die Verbundenheit all dessen, was es auf ihr gibt. Natur – natura naturans – ist die gemeinsame Quelle, Naturgeschichte und Evolution sind der gemeinsame Weg zu Existenzund Entwicklung. Die Menschen, die ganz
grundsätzlich mit allen Wesen dieser Welt verbunden sind und zudem in der Lage, diese wesentliche Gleichheit anzuerkennen, sollten allen Wesen, jedenfalls auf den ersten Blick, die gleiche Existenzberechtigung zuerkennen. Kein Lebewesen kann existieren, ohne das Leben anderer Lebewesen zu beinträchtigen, zu gefährden oder auszulöschen, und auch nichtohne einschränkende und zerstörende Einflüsse auch die unbelebte Welt. Deshalb muss das Eingeständnis, dass alle Wesen das gleiche Recht auf Existenz besitzen, zu Zurückhaltung, Bescheidenheit und Schutz führen.

Kein Individuum und keine Art haben das Recht, ihren eigenen Vorteil blindlings zu maximieren, indem sie sich hemmungslos der Ressourcen bedienen und die damit verbundene Belastung anderen Individuen oder Arten überbürden. Das Fairnessprinzip steht dem entgegen. Dessen Begriff und Anerkennung bezeugen die besondere Stellung, welche die Menschen in dieser Welt geniessen. Das Prinzip ist klarer Ausdruck ihrer höchsteigenen Würde.

Das heutige Eingreifen der Menschen in die nicht menschliche Welt ist exzessiv – es muss massvoller werden. Das Streben nach immer höherem Lebensstandard ist mit Nachhaltigkeit nicht vereinbar, genauso wenig wie die Ideologie des konstanten Wirtschaftswachstums und der Steigerung des Bruttosozialprodukts. Es herrscht ein Ungleichgewicht zwischen Industrie-
und Entwicklungsländern, deren Lebensstandard aber nur durch Wirtschaftswachstum gehoben werden kann. Die Länder mit grossem finanziellen, industriellen und wissenschaftlich-technischen Vorsprung müssen deshalb ihre Erwartungen und ihren Güterverbrauch einschränken, um den minder privilegierten Menschen eine Verbesserung ihrer Lebensumstände zu ermöglichen.

Alles, was auf unserer Erde existiert, hat sein Dasein und seine Bedeutung unabhängig von
menschlichen Interessen, Zielen und Bewertungen. Es ist nicht einfach da, um menschlicher Laune zu dienen, sondern entfaltet sich selber, besonders, wenn es ein Lebewesen ist. So wohnt ihm ein eigener, inhärenter Wert inne, der durch den vernünftigen Menschen zum Ausdruck gebracht, aber gewiss nicht geschaffen werden kann.

Solche inhärenten Werte anzuerkennen, bedeutet für das moralische Wesen die Verpflichtung, dem Träger des Wertes mit Achtung zu begegnen und ihn zu schützen. Daraus ergibt sich, dass die Menschen ihre Eingriffe gegenüber solchen Trägern von Eigenwert beschränken und verfeinern, oder von Eingriffen schlicht Abstand nehmen sollen.

Sensibilität und Einfühlung sind Teil eines nachhaltigen Ethos, im Hinblick auf Schönheit, Bedürfnisse und die Fähigkeit unserer Mitwesen, Lust und Leid zu empfinden. Daraus fliesst, ganz natürlich, Mitempfinden, ja Mitfühlen mit deren Stand und Aussichten.

Umsichtige Erforschung von Eigenheiten und Eigenbedeutung der Dinge und Wesen muss einhergehen mit dem Bestreben, die Umwelt so zu erhalten, wie sie unsere Mitwesen brauchen, um ihr eigenes In-der- Welt-Sein voll entfalten zu können.Unsere Haltung sollte Staunen und Bewunderung sein, wenn wir dem Reichtum und der Würde von Lebewesen und natürlichen Systemen gegenüberstehen. Daraus wird tiefe Achtung erwachsen. Im Wissen um unsere Fähigkeit, aufbauend, bereichernd und fördernd, aber auch abträglich und zerstörend wirken zu können, sollten wir uns verpflichtet fühlen, das zu tun, was wir am besten vermögen, nämlich, Kultur in diese Welt bringen. Das bedeutet nichts anderes als die besten Bedingungen zu schaffen, dass die Natur ihre Schätze, zu denen die Kultur selbst zählt, angemesn, schön und in wahrer Fülle entfalten kann.

Ein Wort zur Umsetzbarkeit

Ich bin mir bewusst, dass dieser Entwurf einer nachhaltigen Ethik sehr allgemein gehalten ist, und dass viele Probleme auftauchen, wenn wir versuchten, ihn umzusetzen. Aber man darf nicht vergessen, dass ein Ethos bloss Ausgangspunkt ist. Es gibt eine allgemeine Richtung für unser Handeln vor, ohne die Grundsätze im Detail vorwegzunehmen, die in der konkreten Situation zu befolgen sind. Ethos, die Grundhaltung, ist eine dauernde Herausforderung; man macht es sich zu einfach, wenn man sie wegen ihrer Allgemeinheit kritisiert. Die Aufgabe moralischer und ethischer Überlegung ist, selbstverständlich, Prüfung und Rechtfertigung oder Kritik dessen, was der Fall ist; ihre wichtigere Funktion besteht darin, uns zu ermutigen und zu besserer Einsicht zu führen. Daraus muss ein moralisches Handeln erwachsen, das über das hinaus geht, was etabliert und akzeptiert ist. Die moralische Entwicklung ist ebenfalls Teil des Reichtums und der Schönheit innerhalb der Natur. Unser grossartiges Privileg ist es, sie zum Blühen zu bringen.

[Vision. Das Schweizer Magazin für Wissenschaft und Innovation. Beilage „Umwelt“ zu Nr. 2 (Juni) / 2002, S. 44 f.]