Einige philosophische Aspekte der Rheinauer-Thesen

Rheinau, 6. September 2008, «1001Gemüse&Co», Pressekonferenz

Die Rheinauer-Thesen fussen auf einer klaren philosophisch-ethischen Grundhaltung: Alles, was lebt, soll nicht vorweg auf seinen Nutzen für die Menschen betrachtet und bewertet werden. Zunächst soll es darauf hin untersucht und verstanden werden, was es von sich aus und für sich selber ist.

Diese Haltung schliesst nicht aus, dass wir Lebewesen, hier Pflanzen, zu unserem Nutzen und Gewinn verwenden; wohl aber steht dieser Zugriff nicht im Vordergrund, unsere Grundhaltung ist nicht utilitaristisch.

Sie zielt vielmehr darauf, allen Wesen, mit denen wir unsere Welt teilen, gerecht zu werden: Sie will Fairness verwirklichen.

Die Verankerung in einer religiösen Lehre ist dazu nicht erforderlich. Insbesondere bedarf es keiner schöpfungstheologischen Argumentation. Die Thesen als philosophische, dem Anspruch nach universal zu begründende, sind dem methodischen Atheismus verpflichtet.

Für den einzelnen Menschen, der sich letztlich in einem existenziellen Entschluss eine Grundhaltung zu eigen macht, schliesst dies eine andere Verankerung nicht aus. Nur darf er sich im philosophischen Diskurs nicht auf sie beziehen.

Dieser Diskurs bewegt sich nicht im luftleeren Raum. Er hält sich an Einsichten, die auf verschiedenen Wegen Erfassen und Verstehen von Pflanzen vermitteln, so besonders die Resultate naturwissenschaftlicher Forschung. Für die Rheinauer-Thesen ist dies kennzeichnend. Sie stützen sich auf die «modernen Konzepte der Biologie». Danach sind Pflanzen Wesen, denen es in ihrem Dasein um dieses selbst geht – nicht anders als Tiere und Menschen.

Pflanzen haben ein eigenes Gutes, das wir als vernünftige Wesen erfassen können, das hingegen in seiner Existenz nicht ursächlich von uns Menschen abhängt. Wir nennen diesen Wert, den erst wir zur Sprache bringen, Eigenwert.

Seit je leitet uns als moralische Wesen der ethische Grundsatz der Gleichbewertung und Gleichbehandlung von Gleichem – immer ist mitgedacht: soweit es nicht verschieden ist. (Das Recht der Gleichbehandlung schliesst stets das Recht auf Ungleichbehandlung ein, soweit Differenzen vorliegen.)

Gerade biologische Erkenntnisse machen verständlich, warum es nicht angemessen ist, Pflanzen bloss als Sachen anzusehen, mit denen man, auf eigenen Nutzen und Gewinn bedacht, nach Belieben umspringen darf. Umsicht, Rücksicht, Achtung und Fairness sind uns geboten, sofern wir beanspruchen, als moralische Wesen zu gelten.

Wir können uns diese ethische Forderung einprägen und immer neu in Erinnerung rufen, indem wir von der Würde der Pflanze sprechen.

Das heisst freilich nicht, dass wir Pflanzen nicht verwenden und gar vernutzen dürfen. Pflanzen sind für uns als Grundlage der Ernährungskette und als Lieferanten lebensnotweniger Stoffe unentbehrlich. Sie sind für uns da, damit wir sie verzehren und vielfältig verarbeiten können.

Dies freilich nie ohne vernünftige Grenzen.

Das führt uns in Schwierigkeiten. Doch neu ist dies nicht. Moralität, auf das sittlich Gute gerichtet, schafft Spannungen. Sie steht dem entgegen, was wir das Böse nennen, das wir verwerfen sollen. Unsere Menschenwürde bewähren und bewahren wir eben darin, dass wir dieser Herausforderung nachkommen, dass wir sie, die uns nicht selten in ein Dilemma stürzt, bewältigen.

Albert Schweitzer hat das oft genug hervorgehoben, exemplarisch mit jenem Passus, den heute spöttisch und vermeintlich kritisch zitiert, wer seiner existenziellen Tiefe nicht nachgesonnen hat:

«Was sagt die Ehrfurcht vor dem Leben über die Beziehungen zwischen Mensch und Kreatur? Wo ich irgendwelches Leben schädige, muss ich mir darüber klar sein, ob es notwendig ist. Über das Unvermeidliche darf ich nicht hinausgehen, auch nicht in scheinbar Unbedeutendem. Der Landmann, der auf seiner Wiese tausend Blumen zur Nahrung für seine Kühe hingemäht hat, soll sich hüten, auf dem Heimweg in geistlosem Zeitvertreib eine Blume am Rande der Landstrasse zu köpfen, denn damit vergeht er sich an Leben, ohne unter der Gewalt der Notwendigkeit zu stehen.»

Albert Schweitzer, Kultur und Ethik. München: Verlag C. H. Beck 1990, Nachdruck 1996, 340. Vgl. GS Bd. 2, 388.

(Dass Schweitzer hier bloss ein Beispiel gibt für eine weit umfassendere, bedeutungsreiche und anspruchsvoll Ethik, die nicht selten zu wenig verstanden, aber zitiert wird, steht auf einem anderen Blatt. Vgl. Beat Sitter-Liver, «Ehrfurcht vor dem Leben» heisst sich auf die Welt im Ganzen beziehen, in: Michael Hauskeller (Hrsg.): Ethik des Lebens. Albert Schweitzer als Philosoph. Die Graue Edition, Kusterdingen 2006, 237 – 258.)