Mitte und Mass. Leitbild des Humanismus

Zu Peter Cornelius Mayer-Tasch. Mitte und Mass. Leitbild des Humanismus: von den Ursprüngen bis zur Gegenwart, 372 Seiten, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2006.

Peter Cornelius Mayer-Tasch legt eine über Jahrzehnte erarbeitete, «zwangsläufig individuell gefärbte» (S. 127) Kulturgeschichte des Abendlandes – sie reicht bis in unsere Tage – vor, mit ihr zugleich ein Stück intellektueller Autobiographie1. Der hier verwendete weite Kulturbegriff umfasst Gesellschaft, Politik und Wirtschaft ebenso wie Philosophie, Religion und Theologie, Recht, Literatur und Künste, um es bei diesen Beispielen bewenden zu lassen. Selber spricht der Autor wiederholt von «politischer Anthropologie» (S. 295 u. ö.). Diese liefert er gewiss; doch der Ausdruck ‹Kulturgeschichte› dürfte der Vielfalt, dem geistigen Anspruch und den kulturkritischen Aspekten seines Werkes (vgl. z.B. S. 219-223) eher entsprechen.

Generelles Thema ist die Art und Weise, in der Menschen im Westen über ihr «Verhältnis zu Gott und (die) Welt» nachdachten und nachsinnen, auch wie sie ihre Einsichten praktisch werden lassen. Die Methode wird bestimmt durch die Wahl der hermeneutischen These, dass seit der Antike Mitte und Mass als Leitvorstellung die jeweilige Suche nach dem, was Menschen angemessen ist, bestimmen. Damit ist der Boden bereitet für eine Darstellung, die Beschreibung und Deutung immer zugleich mit normativer Analyse und Kritik verbindet. Die Stellungnahmen sind wesentliches Element der Studie. Sie ergeben sich zwingend auch aus dem Umstand, dass Humanismus als das Nachdenken über Mensch und Menschlichkeit stets auch nach der «normative[n] Essenz des Humanen» fragt (S. 11). Sie erzielen in für das Buch typischer Weise pädagogischen Gewinn: Indem geschilderte Ereignisse klar und deutlich bewertet werden, sieht sich der Leser zur Auseinandersetzung herausgefordert, mit ebenso strengen und nicht weniger nachvollziehbaren Argumenten – vorausgesetzt, er stellt sich den Ansprüchen von Moralität, Aufrichtigkeit und wissenschaftlicher Kritik. – Dass die Grundlagen zumeist nur «in idealtypischer Verkürzung und mithin auch zwangsläufig individuell gefärbter Kontrastierung und Akzentuierung zu Papier gebracht werden», ergibt sich aus der Menge des zu bewältigenden Materials. So kommt es beispielsweise im Versuch einer knappen Erfassung von philosophischen, sozioökonomischen und politischen Hintergründen sowie religions- und kirchengeschichtlichen Phänomenen zu «Glättungen». Was hier im Kontext von «Humanismus und Renaissance als kulturphilosophische Epoche» explizit bedacht wird (S. 125-127), gilt mutatis mutandis für das ganze Werk. – Im Übrigen arbeitet Mayer-Tasch mit Quellen und reicher Sekundärliteratur. Er gibt den sachlichen, systematischen und zuweilen assoziativen Zusammenhängen grösseres Gewicht als der strengen Chronologie, auch wenn er im Ganzen natürlich den zeitlichen Ablauf respektiert – ein der allgemeinen Thematik entsprechendes Vorgehen.2

Gerade weil der Begriff des Humanismus im Laufe der Geschichte vielerlei Gestalten annimmt, ist eine vergleichende und explizit normativ orientierte Studie darauf angewiesen, auf eine sich in der Zeit durchhaltende Kernbedeutung zurückgreifen zu können. «Der Versuch, den Kern eines transepochal verstandenen Humanismus-Begriffes freizulegen, ist das Anliegen des ganzen Buches.» (S. 125) Humanismus ist denn immer auf das «Menschengemässe» (S. 12), auf «die Idee der (rechten) Mitte und des (rechten) Masses» (S. 271) als «Schicksalsort des Menschen» ausgerichtet (S. 12). Dieser Fokus einer unwandelbaren normativen Grundhaltung (S. 271) liefert das stabile Kriterium, welches erlaubt, die geschichtlichen Ausprägungen des Humanismus normativ zu analysieren; sie dient als Grundlage für eine die Zeiten übergreifende, letztlich nicht nur einer – sit venia verbo – «abendländischen Universalisierung» offene Kulturkritik. Humanismus hat «die unter den jeweiligen Blickwinkeln und Zeitumständen bestmögliche Form des Menschseins im Auge», sucht immer auch die «Optimierung der sozialethischen Standards des jeweiligen zivilisatorischen Status quo»; er ist nicht statisch, vielmehr Prozess. – Diese knappe Kennzeichnung trägt alle weiteren Präsentationen und Reflexionen.

Eine Inhaltsangabe zu einer Schrift, welche die abendländische Kulturgeschichte von der Zeit der alten Griechen bis in unsere Tage auf nicht ganz 300 Textseiten Revue passieren lässt, kann nicht anders als sich auf wenige, dazu summarische Hinweise beschränken. Hier zuerst ein Überblick: Die Darstellung setzt ein mit dem Humanismus der Antike, führt in den Christlichen Humanismus ein, geht über in die Erörterung von Humanismus und Renaissance als kulturhistorische Epoche, um die Humanismen vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart zu diskutieren. Ein Epilog rundet die durch mieinander verbundene Regionen schweifende Reise mit dem Blick auf heute wünschbare Horizonte ab. Er wendet die aus der Kulturgeschichte gewonnenen Einsichten auf die gegenwärtige Situation nicht nur, aber insbesondere der abendländischen Menschheit an, in der Gestalt einer treffsicheren Kulturkritik.

«Der Humanismus der Antike» vergegenwärtigt das Nachdenken über Mensch und Menschlichkeit im Denken (Philosophie, Dichtung) Griechenlands, dann die wechselhafte Entfaltung der «römischen Humanitas». «Der christliche Humanismus» – dies ist beileibe nicht als contradictio in adiecto aufzufassen – setzt mit einer Vorahnung des Pontius Pilatus ein, um nach Ausmessen des «Spannungsfeldes von Hierarchie und Gnosis» in Augustinus einen neuen Anfang zu finden. Dieser entfaltet sich trotz «dunkler Zeit» u. a. über Boethius und Cassiodor zum Weg der «Künder und Gründer», exemplarisch bei Benedikt von Nursia, um in einen weiteren Neubeginn während der Karolingischen und Ottonischen Renaissance zu münden. «Der Homo viator zwischen Scholastik und Mystik» markiert «Höhepunkt und Umbruch» – Umbruch als Wechsel zur Leitvorstellung des homo faber, dem Kennzeichen der «kulturhistorischen Epoche» von «Humanismus und Renaissance». Die Schilderung der «Ausgangsposition», darin die für das ganze Werk relevanten «Vorbemerkungen zur Begrifflichkeit», verdienen aus hermeneutischer und methodischer Warte besondere Aufmerksamkeit (S. 125-133). Als folgenreichstes Charakteristikum der
«Schöpferfreude» der Epoche gilt dem Autor «Die Wiedergeburt des Staates» (S. 143-163). Über die Entwicklung der Vorreiter in Italien und des Staatsdenkens in Frankreich wird es greifbar. Klar unterschieden wird der Aspekt der Strukturgestaltung (u. a. Macchiavelli und Bodin) von jenem der materialen Zielfindung (Morus, Bacon, Campanella) in der Konkretisierung der neuen Staatsidee. Sichtbar wird, dass das Verständnis von Staat, Souveränität und der praktischer Umsetzung dieser Ideen noch elitär war (S. 153 ff.), auch wenn die gemischte Verfassung, in der die Gewaltenteilung (mit dem Widerstandsrecht) gesichert wird, gepriesen (S. 156-159) und auch der Gedanke der Sozialstaatlichkeit als Beitrag zum «Staat als Kunstwerk» gewürdigt wurden (S. 161-163).

«Humanismus und Humanismen vom 17.- 20. Jahrhundert» bringt die wichtigsten Grundgedanken, aber auch die Gefahren der historischen Aufklärung zur Sprache. Der Blick fällt zuerst auf die Inhumanität der dem Humanismus verschriebenen Revolutionen, dann auf ‹Humanität› als Schlüsselbegriff der konstruktiven Auseinandersetzung mit den Entgleisungen. Oberhand gewinnt die Einsicht, dass Humanität sich nur verwirklicht in der auf Mitte und Mass ausgerichteten «Wechseldynamik von Anspruch und Pflicht» (S. 176). Illustriert wird die Ambivalenz des Humanitätsideals, das sich vom an der Machbarkeit orientierten Fortschrittsglauben der Aufklärung «über das idealistisch-klassizistische Innehalten in Mitte und Mass» zur romantischen, von Gefühl, Geschichte und ganzheitlichem Vorstellen geprägten Reaktion wandelt. – Im 19. Jahrhundert driften die Auffassungen über das Menschengemässe auseinander. Bemühungen um Mittelwege bleibt nachhaltiger Erfolg versagt. Mayer-Taschs Einfühlungsvermögen wie Ironie prägen eine Kurzgeschichte des Liberalismus; sie zeigt, wie Liberalismus und Humanismus sich ebenso vertragen wie widersprechen können (S. 191). – Die Diskussion des «Marxismus als Humanismus» verdeutlicht, dass auch für Marx und seine Epigonen das Motiv des Humanismus massgebend war. Doch ebenso stellt sie das Verhängnis einer dialektisch-materialistischen Reduktion des Menschseins ins Licht. Der masslose Umschlag in neue Unmenschlichkeit lässt die spätere Bitte Brechts an die Neugeborenen um Nachsicht als hilflos erscheinen (S. 191-198). – Interne und externe Widersprüchlichkeit kennzeichnen die anarchistischen Bewegungen; der inhärente humanistische Antrieb fehlt freilich nirgends. Hilfreich bei der Analyse ist des Autors Unterscheidung von materialistischen und spiritualistischen Anarchisten. Seine umsichtige Bewertung der Bewegung ermöglicht einzusehen, dass deren Impulse zum Hinterfragen der soziopolitischen conditio humana «nicht mehr wegzudenken [sind] vom humanistischen Königsweg des Ringens um Mitte und Mass» (S. 206). – Eine Skizze zu den Vor- und Frühsozialisten leitet über zu den pragmatischen Reformsozialisten. Die Revolution von 1848 und die Integrationsfigur Ferdinand Lassalle verhalfen diesem Sozialismus «zur geschichtsmächtigen Grösse» (S. 211). Im Unterschied zu anderen ging es Lassalle in erster Linie um die soziale und politische Verbesserung der Lage des vierten Standes. Ein wichtiger Schritt gelang dem aus der christlichen Soziallehre entstandenen Solidarimus, der sich mit dem Reformsozialismus (Lorenz von Stein, Lassalle) «in einer genuin humanistischen Bewegung» traf. Auch in dieser Bewegung, so der Autor, entwickelten sich Mitte und Mass wiederum «zu geschichtsmächtigen Grössen» (S. 219). – Der Abschnitt «Mensch und Übermenschlichkeit» widmet sich dem 19. Jahrhundert – der Epoche der geistig reifenden und sozial wie politisch zunehmend ins Werk gesetzten Aufklärung – als Zeit auch der Überheblichkeit und der Dekadenz, dann der Visionen und der Kritik. Letzterer dienen klassisch-humanistische Vorstellungen als Massstab, nach dem gewogen – und zu leicht befunden wird (S. 221). Einprägsame Interpretationen zu Rilke, der «am Menschen vorbei ans Äusserste» kommen will, zu Nietzsches Kulturkritik und Entwurf des Übermenschen, zu Jakob Burckhardts Rezeption der Renaissance illustrieren das «Fin de Siècle als Ab- und Aufgang», zu dem das Streben nach «Trans- und Metahumanität» (226) gehört. Es ist zugleich die Zeit, in welcher der Grundwert von Mitte und Mass zur Mittelmässigkeit herabgesunken ist (S. 222), in der andererseits auch Scharf- und Weitsichtige, Zweifler, als die «gewaltigen alten Männer» warnen und drohen und das trendige «Entwicklungs-, Fortschritts- und Aufbruchsmotiv» in die Schranken weisen (S. 224 f.). Berdjajew und Nietzsche sind nur gerade zwei der unterschiedlich eingehend Diskutierten – wobei Mayer-Tasch den letzteren, ungeachtet dessen Dementis, in der Tradition des Idealismus verankert.

Die Frage «Vom ‹letzten Menschen› zum Gottmenschen?» steht als Titel über dem fünften Teil. «Wenn nicht ein Übermensch, so sollte wenigstens ein neuer Mensch eine neue alte Erde bewohnen», lautet die conclusio der wesentlichen Anliegen und Ziele von Jugendbewegung und Jugendstil (S. 232-239). Die Zwischenkriegszeit brachte manche Initiative zur Praxis eines menschenfreundlichen, nicht, wie Thomas Mann sagte, «militanten» und «seine Männlichkeit entdeckenden» Humanismus hervor. Friedensbewegungen und Völkerbund sind nur gerade zwei Stichworte. Den Initiativen standen allerdings viele entgegen, denen Pazifismus «bestenfalls als liebenswerte Utopie» galt, der Wille zur Mitte als «greisenhafter Wunsch nach Ruhe um jeden Preis» (Oswald Spengler). Rachedurstige Kriegstreiber, unfähig zur Relativierung der eigenen Position, zerschlagen das Streben nach Mitte und Mass, blind für die Grundhaltung der Ehrfurcht vor dem Leben» (Albert Schweitzer) (S. 239-245). – «Herrenmensch als Übermensch und Unmensch» stellt einen grellen Spiegel des Verlustes von Mitte und Mass auf: die theoretisch und praktisch katastrophale Perversion der Rassentheorie, speziell im Nationalsozialismus. Teilhabe und Differenz von Nietzsche werden hier sorgfältig herausgearbeitet (S. 245-256).

Um «Die grosse Freiheit und ihr absehbares Ende» geht es im zweiten und letzten Abschnitt dieses fünften Teils. Von «Zerknirschung und Erbaulichkeit» oder «Vom Nachkriegshumanismus zum globalen ‹business as usual› » ist zuerst die Rede. In einer Skizze der Renaissance des auf Mitte und Mass gerichteten traditionellen Humanismus sind besonders wichtig das Wiedererblühen des Naturrechtsdenkens, die hohe Zeit der Existenzphilosophie, dann die allmähliche Verflachung dieser Energien und, auch bei den Nachkriegsgenerationen, die Konzentration auf den «Wirtschaftswettkampf um ein neues gutes Leben». Erst mit dem Aufkommen von Studentenbewegung, Ausserparlamentarischer Opposition und Bürgerrechtsinitiative (60er und 70er Jahre) sollte das wieder erwachte soziale Gewissen das Desinteresse an der Politik ablösen.

Wenn bisher die Aufarbeitung der Geschichte des Humanismus den Blick vorab auf die unsere Kultur prägende Vergangenheit richtete, so wird jetzt der unserer aktuellen Situation angemessene Humanismus Thema: im Entwurf des Konzepts einer möglichen menschengemässen Zukunft. Als «ökologischer Humanismus», dann als «spiritueller Humanismus» wendet er sich von der Rückschau ab in die Konstruktion. Dies zu einem Zeitpunkt, da erstmals eine ökologische Krise sich global auswirkt, zu einem «Prozess zwischen Mensch und Erde» (266 f.), den der Mensch nur verlieren kann, besinnt er sich nicht wieder auf das Prinzip von Mitte und Mass (wobei hier allerdings offen bleibt, woher das nun kosmologisch verstandene Mass den Menschen zufällt; vgl. S. 269). In diesem Prozess ist müssig, ob der Mensch sich anthropo-, patho-, bio-, öko- oder kosmozentrisch verhält: «Ökozentrisch nämlich geht es letztlich immer zu.» (S. 269) Die Erfahrung der fatalen Gefährdung der Menschenwelt ist seit den 70er Jahren verbreitet. Ihr entspricht der Ruf nach einem neuen oder eben ökologischen Humanismus (S. 270 f.). Eindrücklich die Schilderung, wie und wann sich dieser Ruf auf den verschiedenen soziokulturellen Ebenen durchsetzt, bei den christlichen Kirchen mittlerweile prägnant und die offiziellen Kreise herausfordernd, sonst eher verspätet. Besprochen werden insbesondere die neue Suche nach «der rechten Massstäblichkeit im Verhältnis von Mensch und Technik; die Notwendigkeit, in einer «humanen Wirtschaftsordnung» ökonomische und ökologische Rationalität zusammenzuführen; die unerlässliche sozial- und wirtschaftsethische «Umstimmung» zur achtsamen und verantwortungsbewussten Mitweltlichkeit» sowie die entsprechende «Vermittlung von Politik und Recht» (S. 276). Hier wandelt sich der – immer schon mit evaluativen Bemerkungen durchsetzte – Bericht zur dezidiert normativen Analyse mit ihrem Höhepunkt: der Erinnerung daran, dass aus der Bereitschaft, «den ‹geordneten Rückzug› aus Sackgassen zivilisatorischer Betriebsamkeit anzutreten, auch Befriedigung und Freude wachsen kann» (S. 277). Es ist die «ebenso hektische wie gehässige Fortschrittsdynamik», die uns die Einsicht des ökologischen Humanismus verschleiert, «dass das überkommene humanistische Leitbild von Mitte und Mass … auch im Zeichen einer neuen Dimension der Fülle und der Freude gesehen werden kann» (S. 279).

Der Schritt vom ökologischen zum spirituellen Humanismus, dessen «unverrückbares Ziel … die Überwindung der als defizitär erkannten Humanität heutigen Zuschnitts» ist (S. 287), mag manchem Leser Schwierigkeiten bereiten. Unscharf ist bereits der Ausdruck ‹Humanität›; vom moralischen Standpunkt aus wird zurückhaltend reagieren, wer sich die Idee der Humanität auch als «interveierende Solidarität mit den Rechtlosen und Hilflosen» (Gotthard M. Teutsch) zu Eigen gemacht hat und erwartet, sie hier auch in expliziter Gestalt wiederzufinden. Andererseit überzeugt die Diagnose, die von der Ökologiebewegung «beflügelte Naturphilosophie» suche «Ansätze zu deiner spirituellen Neubestimmung des Menschen im kosmischen Zusammenhang» (S. 282). Nahe liegt, die Spiritualität des Menschen neu zu bestimmen «als einen Ausdruck seiner Verbundenheit mit aller belebten und unbelebten Natur» (ebd.). Mayer-Tasch steckt den von manchen begangenen Weg mit vielen Hinweisen aus, räumt den Arbeiten von Pierre Teilhard de Chardin breiten Raum ein. Die vielen sonst stichwortartig verzeichneten Bestrebungen fasst er in der von ihnen geteilten Überzeugung zusammen, wonach mit dem Menschen «auch seine gesamte Um- und Mitwelt» auf dessen Kooperation mit der Evolution angewiesen ist; dass diese «letztlich zu einer substanziellen Weiterentwicklung des gegenwärtigen menschlichen Entwicklungsstandes führen könne und müsse» (S. 286 f.). Doch für eine weite Kommunikation solcher Gedanken, so wird eingeräumt, ist der Boden noch nicht bereitet. Mit Grund spricht Mayer-Tasch von «erst vage[n] Umrisse[n]» (S. 287). – Leicht hingegen fallen Nachvollzug und Verständigung im letzten Abschnitt, wo gefragt wird, ob «der genetische Humanismus als ‹wahrer Humanismus› » zu betrachten sei (S. 287-294). Ein entschiedenes Nein ist die Antwort. Denn dieser Humanismus lebt von «der genetischen Selbst-Transzendierung und Fremdmanipulation». Seinem Schreckbild antwortet u. a. Aldous Huxley mit seiner Forderung auf ein «Recht auf Unglück». Das Leitbild von Mitte und Mass hat hier auf zwei Ansinnen zu antworten: Medizinische Forschritte sind zu begrüssen, doch einzig «unter der Voraussetzung, dass dabei das [Menschen-] Recht auf natürliches Erbgut respektiert wird» (S. 290). Das aber führt zur Frage, «welche Rolle dem Numinosen» im Falle der «Konvergenz von Humanität und Meta-Humanität zukommen soll und kann» (S. 292). Mayer-Tasch präsentiert bedenkenswerte Positionen, die für einen «transzendentalen Humanismus» (Luc Ferry) eintreten, auch weil «die Abwesenheit von Metapysik und Glaube» ein unheilbares «kulturelles Unbehagen» hervorrufe (Leszek Kolakowski; S. 292). Erst «durch die Verankerung seiner höchsten Werte ausserhalb der Welt» erweise der Mensch «sich wirklich als Mensch» (Luc Ferry). Mayer-Tasch kommentiert: «Eine Reprise des alten Humanismustraumes und ein Memento wider die Welt und die Beliebigkeit des anything goes» (S. 293). Freilich: das Leitbild von Mitte und Mass hätte seine Schuldigkeit getan, wenn es «im Vereinigungs- und Verschmelzungssog einer höheren Wirklichkeits- und Ganzheitlichkeitsebene aufgegangen wäre» (S. 293 f.). Dem Zweifel an solchem Gelingen setzt er entgegen, was wir schon in Paulus› Brief an die Römer finden: contra spem in spem (Röm 4, 18). Wege, einer solchen Hoffnung entgegen zu streben, weisen etwa, so der Hinweis, Albert Schweitzer, Martin Heidegger, Matthew Fox (S. 294).

Der Epilog rundet die Anwendung auf unsere Zeit ab. In wenigen Strichen wird nachgeholt, wonach die Leser schon länger fragen mochten3: der Einbezug östlichen Denkens und ein – heute für die Reflexion auf Humanismus unerlässlicher – erster Schritt zur Universalisierung. «In dem Bekenntnis zu Mitte und Mass begegnen sich der Humanismus des Westens und der Humanismus des Ostens» (S. 295). Das «Buch der Wandlungen» (I ging) wird bevorzugt herangezogen, doch das Streben nach der Mitte wird als allgemeine Leitvorstellung im Denken östlicher Kulturen erkenntlich. Thematisiert wird die Osten wie Westen bedrängende Schwierigkeit, das Mass der Mitte zu finden: ein schicksalhaftes universale, für das sich nur in situationsbezogener Anstrengung eine stets bloss vorläufige Lösung erringen lässt. «Den Königsweg weisen die humanistischen Bemühungen um die Schärfung aller menschlichen Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Willenskräfte»: eine Einsicht, die sich wiederum zu einer knappen, darum nicht weniger scharfen Kulturkritik auswächst.

Eine veritable Einführung in eine dezidiert philosophisch, politisch und rechtlich ausgerichtete Kulturgeschichte des Abendlandes zu schreiben, war nicht wohl nicht erstes Ziel von Mayer-Tasch. Indessen hat er sein Buch nicht zuletzt Studierenden zugedacht (S. 9). So sei abschliessend doch gefragt, ob und wie weit es sich als Einführung eignet. Schnell lässt sich diese Frage nicht beantworten. Hat man akzeptiert, dass das Prinzip von Mitte und Mass als hermeneutische Brille dient – was leicht fällt, weil es sich als Schlüssel zu zentralen Einsichten bewährt -, wird man doch zunächst zögern. Denn in der einfachen Erwähnung von wichtigen Phänomenen, mit den einmal überzeugend, dann kühn, zuweilen vielleicht befremdlich anmutenden – allerdings stets anregenden – Ausdeutungen des historischen, hier insbesondere des kulturellen Geschehens setzt das Buch oft erhebliche Kenntnisse schon voraus, damit eine kritische Auseinandersetzung überhaupt möglich wird. Die oft hohe Dichte an Informationen mag dem Format einer Einführung nicht immer nur förderlich sein, noch abgesehen von der an Bildern und Metaphern reichen sowie oft poetisch gefügten Sprache4. Und dennoch bietet es eine wertvolle Einführung, weil es von Beginn weg die Komplexität des Geschehens erlebbar macht; weil es mit den zahlreichen kurzen Hinweisen die Notwendigkeit vor Augen führt, sich der Vielfalt und vor allem deren inhärenten Dialektik von Denken und Geschehen zu stellen; weil es eine Vielzahl prägnanter, nun doch geschickt einführender Skizzen und kurzer Abhandlungen bereit hält; weil es mit Belegen, Anmerkungen, einem umfassenden Namenregister und aussergewöhnlich reichen Literaturangaben Wege zur Vertiefung erschliesst. Statt vieler Belege sei beispielhaft auf den Abschnitt «III. Die Wiedergeburt des Staates» im Teil «C. Humanismus und Renaissance als kulturhistorische Epoche» verwiesen (S. 143-163). Sagen wir es kurz so: Peter Cornelius Mayer-Tasch ist ein spannendes, anregendes, zuweilen eigenwilliges, für Erkenntnisgewinn, besonders auch für die Selbstverständigung der Lesenden hilfreiches und fruchtbares Studienbuch gelungen – ein Buch für unsere Zeit, in der Arroganz, Skandale, Hybris und Unmenschlichkeit grassieren. Was Peter Cornelius Mayer-Tasch dem Vorfahren Seneca attestiert, trifft auf ihn selber zu: «Das Bekenntnis zu Mitte und Mass durchzieht sein ganzes Werk» (S. 58). Es vermittelt ein mittlerweile dringendes Lehrstück.

  1. Von einem Stück intellektueller Autobiographie lässt sich sprechen, weil Mayer-Tasch das Buch schreiben «musste», nicht nur um «für sich selbst Klarheit» über den vielfältigen Begriff des Humanismus zu gewinnen, sondern weil «er selbst dessen Botschaft nötig hatte». Nur langsam konnte das Buch in der Auseinandersetzung mit den zahlreichen Etappen, die es aufscheinen lässt und kritisch analysiert, seinen Abschluss finden (Prolog, S. 11f.). Das Autobiographische kommt aber auch dort zum Tragen, wo die deutsche Geschichte und in ihr das eigene nach- bzw. mitvollziehende Erleben als pars pro toto abgehandelt wird.
  2. Eigens reflektiert auf Seite 144.
  3. Vgl. jedoch Seiten 193, 198, 229, 279, 281, 286.
  4. Zum Beispiel S. 267 f., ein zweites Muster der Abschnitt «Menschlichkeit und Übermenschlichkeit», S. 219-230. Doch caveat! Oft genug eignet der Sprachkunst des Autors eine besonders aufschliessende Kraft. Dafür liefert, unter vielen, ein schönes Beispiel die Charakterisierung der Grundhaltung der Frauenmystik als «dynamische Passivität» (S. 114).