Rationierung im Gesundheitswesen – eine zetetische Anregung zur Vertiefung der Debatte:

  1. Die Situation des Mangels wird das Gesundheitswesen immer charakterisieren. Im Ein- zelnen ist zu vermuten. dass Organe kaum je in genügender Zahl und Qualität zur Ver- fügung stehen werden. Der Bedarf, das scheint systemimmanent zu sein, ist, wie im Märchen, der Igel, der dem atemlosen Hasen im Wettrennen zuruft „Ich bin schon da!“. Mag es auch politisch deklariert sein, das Ziel, die Angebote des Gesundheitswesens zu maximieren, ist unredlich. Angezeigt hingegen – und von der sittlich-politische Vernunft und Verantwortung aller Bürgerinnen und Bürger gefordert – ist die öffentliche, vornehmlich aber aufrichtige, d. h. nicht strategisch und ohne „vested interests“ geführte Debatte um das Mass und die Ausgestaltung der medizinischen Versorgung in allen ihren Bereichen. – Das grenzt den Sinn von Forderungen zur Produktion von Organen ein und macht es nötig, sich über akzeptable Forschungswege politisch zu verständigen.
  2. Billigkeit als die bessere Gerechtigkeit macht individuelle Rationierung nicht nur sittlich erlaubt, sie kann diese in entsprechenden Situationen sogar fordern.
  3. Die Besinnung auf existentiale Endlichkeit und die praktische Umsetzung der mit ihr gewonnenen Einsichten entsprechen einer adäquaten Anthropologie. Es scheint empfehlenswert, sie in der biomedizinischen Ethik und in durch solche gestützten Analysen und Entscheidungen explizit und systematisch zu berücksichtigen. Denn sie vermag dilem- matische Situationen zu strukturieren und aufzulösen.
  4. Für individuelle Rationierung müssen Ermessensspielräume offen gehalten werden. Formelle Regeln allein zeitigen in konkreten Situationen nicht die beste, weil angemessenste Lösung. Ort und Ausdehnung dieser Räume bedürfen allerdings formeller Bezeichnung und Begrenzung, um der Rechtssicherheit ihre Verbindlichkeit zu erhalten. Diese verlangt überdies, dass jede Abweichung von sanktionierten Regeln förmlich, d. h. vor einer klar bezeichneten öffentlichen Instanz zu rechtfertigen ist.
  5. Bei der individuellen Rationierung sind weitere anthropologische Konstanten entscheidungsrelevant. Die Prinzipien von Fairness, Solidarität und Mitleid lassen es zu, in Kon- fliktfällen Personen den Vorrang zu lassen, die ihren Lebensplan (Präferenzen) erheblich weniger verwirklichen konnten als andere. – Auch direkte und unersetzbare Verantwor- tung für Dritte besitzt Allokationsrelevanz. Denn wir leben nicht als abstrakte Individuen, sondern in und aus Wechselbeziehungen mit Anderen. Die Rettung individuellen menschlichen Lebens rettet immer auch Andere.
  6. Gerade im Hinblick auf die Idee der Humanität erscheint es darum prima facie als ver- fehlt, medizinische Forschung und Betreuung auf das verabsolutierte Prinzip der Lebens- erhaltung auszurichten. In Konfliktfällen, in denen unvereinbare, aber gleichwertige fun- damentale Interessen gegeneinander stehen, ist zu Gunsten jener Personen zu entschei- den, denen, würden sie übergangen, objektivierbar das grössere Unheil widerführe. Diese Einsicht kann sich sowohl in der individuellen als auch in der strukturellen Rationie- rung auswirken, beispielsweise im Verzicht auf das Angebot bestimmter Therapieformen.
  7. Der Einsatz des Loses als Verzicht auf eine Entscheidung ist nach Möglichkeit zu vermei- den, in anderen Bereichen des Gesundheitswesens nicht anders als in der Transplanta- tionsmedizin.. Die Verweigerung einer möglichen moralischen Analyse, Bewertung und Entscheidung ist inhuman, wenn sie im Blick auf Rechtssicherheit ausbleibt. Sie schiebt einen Riegel vor die Tür zur Billigkeit.
  8. Menschenwürde ist höchster Wert. Ihre sittlich-politische Bedeutung bleibt allerdings nur solange intakt, als dieser Leitwert in der Gemeinschaft ständig reflektiert und an Anwen- dungsbeispielen konkretisiert, damit bestätigt wird. Es gilt, sich seiner unverzichtbaren Funktion immer neu zu vergewissern. Das verlangt andererseits, dass man Menschen- würde nicht immer dann und automatisch zum Rettungsanker nimmt, wenn man sich in argumentativen Schwierigkeiten befindet. Der strahlende Wert verkommt sonst zur billigen Münze. Die einzelne Situation, die zur argumentativen Legitimierung von Entscheidungen nötigt, ist in ihrer Komplexität wahr- und ernst zu nehmen, will man den Begriff der Menschenwürde in ihr plausibel und erfolgreich zur Geltung bringen. Allokationsdilemmata im Transplantationswesen lassen dies besonders deutlich erkennen.
    Bei der Bewältigung von Rationierungsproblemen im Zusammenhang des gesamten Gesundheitswesen kommt dem sorgfältigen Umgang mit Menschenwürde grösste Be- deutung zu.