Universale moralische Prinzipien und Normen – ein naiver Traum?

Zusammenfassung

Verteidigt wird eine dreifache These: Normative moralische Universalien sind unerlässlich, soll die Menschheit möglichst friedlich fortbestehen; sorgfältige hermeneutische Analyse belegt, dass solche Universalien faktisch bestehen; sie in einem an der formalen Idee des Guten orientierten Prozess stets neu zu festigen, ist wichtigste ethisch-politische Herausforderung in unserer Zeit. Auf eine globale Politik lässt sich nicht verzichten; diese muss aber in einem reflektierten Kern-Ethos wurzeln: in Werten, Prinzipien und Haltungen, über welche die Menschheit schon lange verfügt und die sie faktisch umsetzt, in je geschichtlicher Form. Das belegen Studien wie empirische Untersuchungen. Herangezogen werden u. a. – neben der Erklärung zum Weltethos – Arbeiten von Samuel Huntington und Heiner Roetz, dann auch internationale Erklärungen (UNO, UNESCO), die Sammlung «le droit d’être un HOMME» (UNESCO), internationale Vereinbarungen und Kodexe der Zivilgesellschaft. Als Illustration der zuletzt genannten Kategorie dienen abschliessend die Internationalen ethischen Richtlinien für biomedizinische Forschung am Menschen (CIOMS Guidelines).

Wer unter den aktuellen Bedingungen menschlichen Daseins in der Welt nach der Möglichkeit und nach Funktionen moralischer und ethischer Universalien fragt, beschäftigt sich immer auch mit einem Kernaspekt der interkulturellen Philosophie. Deren Ziele sind auch die Ziele des Fragens nach jenen Universalien. Das wichtigste Ziel interkultureller Philosophie ist «eine gewaltfreie interkulturelle Verständigung». Am ehesten lässt es sich anhand qualitativ hochstehender Argumentation erreichen. Diese «ist auch das beste Mittel, um den rassistischen, … politischen» und weiteren «Instrumentalisierungen des Kulturellen zu begegnen, die solch einer Verständigung in gefährlicher Weise entgegen wirken» (Paul 2007, 11).

In der interkulturellen Philosophie, damit in der gemeinsamen und selbstkritischen Suche nach moralischen Universalien geht es darum, «eine die ganze Menschheit einschliessende und der Menschlichkeit verpflichtete Kultur» zu schaffen, welche «die berechtigten Besonderheiten der einzelnen» lokalen, regionalen und auch weiter ausgreifenden Kulturen wahrt (ebd. 27).

Um weltweite Verständigung im Lichte der Humanität, um Toleranz und Weltfrieden also geht es, wenn wir uns mit der Möglichkeit normativer Universalien befassen. Das mag zu anspruchsvoll klingen, skeptischer Distanz rufen und besonnene Pragmatik einfordern. Doch gilt es zu bedenken, dass genau diese Ziele unausgesetzt verfolgt und so weit wie möglich erreicht werden müssen, wenn denn die Menschheit überleben soll1; dass dabei der Blick allein auf die Menschenwelt kurzatmig, weil einer unvollständigen Anthropologie verhaftet, bleibt. Denn die Menschen sind immer Teil dessen, was Ram Adhar Mall, beispielhaft, «das grosse Ganze» bzw. «die grosse Natur» nennt (2000, 2-5). Der Streit um die Möglichkeit normativer Universalität2 wurzelt daher in partieller Blindheit. Die Menschen sind ja doch eingebettet in ein allumgreifendes, letztlich unfassbares Ganzes. Es liefert die Voraussetzungen dafür, das, was wir als grundsätzliche Differenz ansprechen, dennoch als überwindbar zu denken und so in konkreter Praxis zu erleben. Damit werden weder besondere historische Entwicklungen noch spezifische Traditionen ausgeschlossen, wohl hingegen die Möglichkeit ihrer Zusammenführung gedacht. Gesetzt, wir konstruieren eine adäquate Kosmologie und die ihr entsprechende Anthropologie, und dies in einem allgemeinen diskursiven Prozess, dann kann es geschehen, dass wir zu universell gültigen Einsichten gelangen und, im Felde normativer Regulierungen, zu immer schon geteilten fundamentalen Werten und Prinzipien.3

1. Eine dreifache These

Die Frage, ob denn überhaupt eine Chance bestehe, universale normative Regeln zu finden bzw. zu konstruieren, nährt eine wissenschaftliche Debatte, die seit längerer Zeit Aufmerksamkeit in Gesellschaft und Politik gefunden hat und sich mit globaler Besorgnis verbindet.

Verbreitet ist die Erfahrung, wie reich an Gestalten und wie vielstimmig sich unsere Gemeinschaften, Nationen, Regionen, die Menschheit überhaupt präsentieren. Wir freuen uns des Reichtums und der Schönheit dieser Vielfalt, werden aber auch von Furcht und Schrecken erfasst, die sie durchdringen. Die Angst scheint sich der Möglichkeit universell geteilter Werte und Prinzipien entgegenzusetzen und jede Aussicht darauf zu zerstören, eine globale Gemeinschaft zu verwirklichen, die Krieg durch Recht, Fairness, Toleranz und Solidarität zu ersetzen wüsste.

Es fehlt indessen nicht an guten Gründen, diese verängstigte Sicht abzuweisen. Einige seien im Folgenden erläutert, um damit die folgende dreifache These zu verteidigen:

  • Die Menschheit, wie wir sie zu kennen meinen, kommt nicht darum herum, normative Universalien zu konstruieren und praktisch zu honorieren, jedenfalls so lange nicht, als weltweit Übereinstimmung herrscht darüber, dass diese Menschheit als ganze fortbestehen und sich in bestmöglichem Frieden entfalten soll.
  • Eine sorgfältige hermeneutische Analyse der vielfachen Kulturen in Geschichte und Gegenwart lässt erkennen, dass derartige Universalien seit langer Zeit Anerkennung finden. Belege liefert schon ein kurzer Blick auf zeitgenössische internationale Dokumente mit ihrer jeweiligen ethischen Begründung.4 Sie machen deutlich, dass in der Tat Wege begangen werden, um aus abstrakten Prinzipien konkrete und praktisch umsetzbare Normen zu gewinnen.
  • Die wichtigste Herausforderung liegt darin, einmal gutgeheissene universelle Werte und Prinzipien überzeugend (durch Erziehung und Bildung), konkret (durch Experten, Umfragen bzw. Abstimmungen) und wirksam (in der Politik, aber auch durch ausserstaatliche Organisationen) werden zu lassen. Dies in einem permanenten Prozess, der durch Wahrhaftigkeit und durch die formale Idee des Guten geprägt wird.5

Dass die Argumente, die zur Verteidigung dieser These vorgebracht werden, besonders originell seien, wird nicht behauptet, wohl jedoch dass das Vorgetragene hilfreich ist, wenn es darum geht, die angesprochene Debatte anhand der Bereitstellung empirischer Befunde zu klären und schliesslich beizulegen. Das Gebot der Aufrichtigkeit nötigt allerdings dazu, auch die Schwierigkeiten zu benennen, die auftreten, wenn wir uns bemühen, praktisch werden zu lassen, was wir aus der Theorie zu wissen meinen. Erst wenn wir auch diese Aufgabe bewältigen, gelingt es, ethisch Einsichtiges zu wirkungsvollen Motiven unseres Handelns werden zu lassen.

2. Warum überhaupt nach normativen Universalien in Ethik und Politik suchen?

Lesen wir die Einführung und dann den Anfang des ersten Kapitels der Erklärung zum Weltethos, welche das Parlament der Weltreligionen am 4. September 1993 in Chicago verabschiedete6, wirkt die Feststellung , wir verfügten bereits über universal verbindende Werte, unverrückbare Massstäbe und moralische Grundhaltungen trivial (Erklärung 1993, 4). Warum sollte es denn noch nötig sein, für solche Universalien zu argumentieren? Die Frage lässt sich unschwer beantworten. Kritische Einwendungen schon nur gegen die blosse Idee normativer Universalien finden sich weit verbreitet. Der Begriff universaler Werte gilt als unbrauchbar, als geläufig vielleicht in westlichen Kulturen, als unwichtig dagegen etwa in ostasiatischen Gefilden. Was westliche Staaten als zentrale Werte verkünden: «Individualismus, Liberalismus, Konstitutionalismus, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, freie Märkte, die Trennung von Staat und Kirche, erzeugt oft […] kaum Resonanz in islamischen, konfuzianischen, japanischen, hinduistischen, buddhistischen oder orthodoxen Kulturen […] Die Vorstellung, es könnte eine universale Kultur geben, ist eine westliche Konstruktion. Sie steht im Widerstreit mit Strömungen in asiatischen Gemeinschaften, die gerade dem, was Völker von einander unterscheidet, besonderes Gewicht beimessen» (Huntington 1993, 40 f.).7 Mag diese von Samuel Huntington angebotene Analyse auch als unvollständig, einseitig oder gar schwammig kritisiert werden8, sie stützt doch eine andere Art von Kritik, vorgetragen beispielsweise von afrikanischen Kollegen, welche den Missbrauch westlicher Ideen und Werte durch eben jene, die sie propagieren, denunzieren. Oft genug, so lautet ihre Klage, wurden und werden sie als Instrumente der Diskriminierung, Unterdrückung und Ausbeutung verwendet. – Die Erklärung zum Weltethos und wiederum Samuel Huntington, um bei diesen beiden Quellen zu bleiben, führen zahlreiche Beispiele an, in denen Machtgier eben jene Werte und Haltungen erstickt, die uns zu Solidarität, Toleranz, Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit, kurz zur Humanität anhalten könnten.

Schliessen wir diesen unerfreulichen Passus mit dem Hinweis auf eine aktuelle Erscheinung, die Anlass zur Sorge gibt. Gemeint ist hier nur das sattsam bekannte Eifern privater wie öffentlicher Institutionen nach einer führenden Position im weltweiten wirtschaftlichen Wettbewerb. Wird dieses – in Grenzen gewiss vertretbare – Eifern zum ersten und alleinigen Ziel politischer Gemeinschaften und wirtschaftlicher Unternehmungen, dann zermürbt es moralisch gerichtetes Denken und Handeln und lässt ethisches Engagement als Abfall verschwinden.

Ist also die Idee universal verpflichtender moralischer Prinzipien nicht einfach ein kindischer Traum oder schlicht absurd? Nicht, wenn wir diese Frage mit guten Gründen verneinen. Dann wird die Idee zum notwendigen Konzept. Das zuletzt angesprochene Beispiel verdeutlicht, warum sie zu den dringlichen Herausforderungen der Menschheit gehört. Und ein weiterer, in der Tat universell zugänglicher Grund dafür, normative Universalien als dringend zu betrachten, sie in privaten wie in politischen Aktivitäten auf allen Ebenen und weltweit wirksam zu machen, findet sich unschwer. Erinnern wir uns – trotz dem jüngst entstandenen Aufruhr um einen Datendiebstahl im Zusammenahng mit dem britischen Klimaforschungs-Institut «Climate Research Unit (CRU)9 – an den vor kurzem aufgelegten Vierten Synthese-Bericht von IPCC, dem «Intergovernmental Panel on Climate Change».10 Was dort bezogen auf den Klimawechsel an lebensbedrohlichen Gefahren erläutert wird, gilt analog für eine beeindruckende Serie weiterer globaler Probleme. Auch sie sind geläufig, etwa Hunger, Wachstum der Wüsten, Krieg um natürliche Ressourcen; die ungerechte ökonomische Weltordnung mit dem selbstsüchtigen Gebrauch von Macht und Reichtum; dann verbreitete Seuchen und Krankheiten, das unkontrollierte Vordrängen wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen, auch angestachelt vom Begehren nach finanzieller Bereicherung; die Verzwergung des Sinns menschlichen Daseins durch dessen wachsende ökonomistische Auslegung. Selbstverständlich können und müssen diese Probleme im individuellen Rahmen und auf allen Ebenen sozialer Existenz angegangen werden; doch jegliche Hoffnung auf Erfolg zerschlägt sich, werden sie nicht schliesslich durch kohärente und kooperative globale Bestrebungen bewältigt. Gute globale Politik lässt sich nicht länger ungestraft aufschieben oder gar umgehen. Doch war eben von guter Politik die Rede, wurde so selbsverständlich wie unausweichlich ein ethischer Terminus verwendet. Der Grund hierfür ist einfach: Alle vernünftige Politik setzt eine moralische Basis voraus, selbst dann, wenn wir sie als schlechte Politik beurteilen. Politik, die nicht letztlich tief in Ethik wurzelt, das heisst in reflektierten, allgemein akzeptierten Werten, Prinzipien und Haltungen der Gemeinschaft, für die sie entworfen wird, steht auf sumpfigem Grund. Das gilt nicht weniger für globale Politik.

Wir sind also angewiesen auf ein globales Kern-Ethos, welchem im Prinzip alle Menschen nachleben. Eingeräumt sei, dass damit eine Vision in Worte gefasst wird, die sich schwerlich voll verwirklichen lässt. Indes konfrontiert sie uns mit einem vernünftigen Ideal, das uns anhält zu versuchen, was wir vermögen, um ihm geschichtliche – das heisst immer auch vorläufige – Wirklichkeit zu verschaffen.11 Wir unterschreiben damit, was das Parlament der Weltreligionen erklärte: «dass es keine bessere Weltordnung geben wird ohne ein Weltethos».12

3. Dass und wie sich normative Universalien mit Erfolg konstruieren lassen.

Ob und wie weit das Konzept normativer Universalien sowohl vernünftig als auch praktisch sinnvoll ist, lässt sich am besten anhand empirischer Untersuchungen ausmachen. Antwort erhalten wir dann, wenn wir auf ein wahrhaft universales System stossen. Mit der Bestimmung ‹wahrhaft universal› soll jeglicher Missbrauch des Anspruchs auf Universalität von Werten und Normen ausgeschlossen werden, der imperialistischen Zielen und der Unterdrückung dient.13 Was damit gemeint ist, hat einmal mehr der sonst heftig kritisierte Samuel Huntington auf den Punkt gebracht, ex negativo freilich. Er erinnert daran, dass Staaten der westlichen Welt , «wenn sie ihre Werte wie Demokratie und Liberalismus als universale Werte propagieren», darauf abzielen, «ihre militärische Vorherrschaft zu festigen und ihre wirtschaftlichen Interessen zu fördern» (1993, 29). Er legt den Finger auf den misslichen Umstand, dass
«Entscheide im Sicherheitsrat der UNO oder im Internationalen Währungsfonds (IMF), die ganz offensichtlich westlichen Interessen dienen, der internationalen Öffentlichkeit so präsentiert werden, als reflektierten sie Wünsche der Weltgemeinschaft». Ein Trugbild von Universalität wird so der Welt als generell hilfreiche Massnahme aufgeredet. Huntington formuliert alles andere als schwammig, wenn er kritisiert, der «Ausdruck ‹Weltgemeinschaft› sei zur euphemistischen Norm verkommen …, um Handlungen, welche [in Tat und Wahrheit] die Interessen der USA und anderer westlicher Mächte spiegeln, globale Legitimation zu verschaffen» (1993, 39). – Diese Aussagen bleiben hier ohne Kommentar. Sie dienen allein dazu, durch Kontrastierung zu verdeutlichen, was gemeint ist, wenn hier von universaler Rechtfertigung moralischer Werte und normativer Prinzipien gesprochen wird. Wirklich und gültig werden diese erst dadurch, dass sie, im Prinzip, von allen Menschen gutgeheissen werden, nachdem diese die Auswirkungen einer generellen Beachtung solcher Werte und Prinzipien im Lichte ihrer eigenen Interessen überprüft und dann für sich akzeptiert haben. Der Grundsatz der Universalisierung und seine für «die Diskursethik selbst» gewonnene «sparsame» Form, die Jürgen Habermas in seinen «Notizen zu einem Begründungsprogramm» erläutert, werden hier also übernommen (1983, bes. 103).

Wahrhaft universale Systeme existieren in der Tat, und sie werden in entsprechender Praxis honoriert. Als erster Beleg diene uns der wiederholte Blick auf die Erklärung zum Weltethos. Offen als Text von «Frauen und Männer[n], welche sich zu den Geboten und Praktiken der Religionen der Welt bekennen», deklariert (1993, 2, 4), will die Erklärung sinnvoll und akzeptabel für alle Menschen sein, ob diese nun religiös gebunden sind oder nicht. An die 6500 Teilnehmende aus aller Welt, 125 religiöse Traditionen repräsentierend, waren eingebunden in einen globalen Prozess, der schliesslich in so etwas wie eine Magna Charta mündete. Seinen Boden gewinnt er im empirisch erhärteten Faktum, wonach die religiösen Traditionen der Welt einen gemeinsamen moralischen Schatz bergen, der nun den Namen ‹Weltethos› erhält. Diesen Schatz hob das Parlament der Weltreligionen und verlieh ihm ausdrücklich universale Wirklichkeit und Wirkung, indem es die folgenden fünf Grundsätze samt den zugehörigen Erläuterungen einvernehmlich verankerte: 1. Eine Grundforderung: Humanität. Jeder Mensch muss menschlich behandelt werden. – 2. Vier unverrückbare Weisungen: a. Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben. – b. Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung. – c. Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit. – d. Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau. (1993, 5 – 14). – In ihren Erläuterungen zu den fünf Punkten greift die Erklärung viel Wichtiges auf. Was in unserem Zusammenhang besonders zählt, ist die Tatsache, dass der vollständige Text durch eine interdisziplinäre und, noch wichtiger, weltweite interkulturelle Gemeinschaft gutgeheissen und zur Gewissensverpflichtung erhoben wurde.

In einem nächsten Schritt wenden wir uns nochmals Samuel Huntington zu. Er gilt bekanntlich als Vater der These vom «Kampf der Kulturen»14, von einem Widerstreit, der globale Politik künftig prägen wird. Weil Missverständnisse möglich sind, sei betont, dass Huntington in seinem Aufsatz keineswegs kulturelle Unterschiede als alleinige Quelle für Konflikte betrachtet (1993, 22); noch auch behauptet er, «dass kulturelle Identitäten alle anderen Identitäten ersetzen». Nirgends tritt er für die «Wünschbarkeit von Konflikten zwischen Kulturen» ein (ebd., 48). Was Kritiker nicht selten übersahen, ist das Faktum, dass der Titel seines Aufsatzes mit einem Fragezeichen endet; was ihn letztlich bewegt, ist weniger eine These als eine – zwar thesengestützte – Frage (Huntington 2002, 13–15). Genau das verbindet nun seinen Artikel mit dem, was uns hier beschäftigt. Zum Schluss seines Textes diskutiert er, was der Westen unternehmen müsste, sollte seine, Huntingtons, These zutreffen. Sein Rat in langfristiger Perspektive lautet, der Westen möge ein «tieferes Verständnis für die grundlegenden religiösen und philosophischen Annahmen anderer Kulturen» entwickeln, ein Verständnis auch dafür, «wie die Angehörigen dieser Kulturen selber ihre Interessen sehen». Voraussetzung dafür ist für Huntington eine eingehende und umfassende hermeneutische Erforschung koexistierender Kulturen. Dies mit dem doppelten Ziel, einmal «Elemente von Gemeinschaft zu identifizieren», zum andern einen Weg zu finden, auf dem es möglich wird, «eine Welt verschiedener Kulturen, die jede für sich lernen muss, mit anderen zu koexistieren», zu gewinnen (1993, 49). Offensichtlich bewegt ihn in erster Linie das Interesse, Frieden zu schaffen und zu sichern. Folgen wir seinen Darlegungen aufmerksam, fällt uns auf, dass die gesuchten «Elemente von Gemeinschaft» Werte und aus diesen entspringende normative Festlegungen einschliessen. Das aber sind nun Errungenschaften der Suche nach interkulturellen normativen und zugleich universalen Elementen. Ersichtlich setzt also gerade Huntingtons Theorie über das Zusammenstossen von Kulturen, wird sie zureichend verstanden, die Universalität moralischer Richtlinien voraus.15

Suchen wir das Wesentliche fremder Kulturen zu erfassen, müssen wir uns, es sei wiederholt, unweigerlich auf einen anspruchsvollen hermeneutischen Prozess einlassen. Das mag für jene, die mit hermeneutischen Untersuchungen vertraut sind, trivial klingen. Es gewinnt jedoch ein eigenes Gewicht, lassen wir uns auf ein Argument ein, das wir Heiner Roetz, einem Experten unter anderem für chinesische Ethik und Kultur sowie für Menschenrechte, verdanken. In einer Studie zur Frage, ob kultureller Pluralismus einen material-ethischen Konsens verunmögliche, demonstriert er, wie irrig ein essentialistisches Verständnis von Kultur ist.16 Kultur ist kein ein für allemal fixierter Sachverhalt. Sie gestaltet sich als geschichtlicher und fortlaufender Prozess, den vielerlei Quellen speisen: als ein komplexes dynamisches Phänomen mit mannigfaltigen, nicht notwendig kohärenten Eigenschaften, mit voneinander abweichenden Meinungen und Überzeugungen, ja mit Widersprüchen. Kulturelle Erscheinungen sind von unbestimmter Dauer und Nachhaltigkeit; sie sind das – zuweilen augenblickliche – Ergebnis mancher Einflüsse, offen für Lernprozesse und Veränderung.17 Um ihnen gerecht zu werden, bedarf es langwieriger und geduldiger Untersuchungen. Dann mag es gelingen, ihnen in ausreichender, kaum jedoch in umfassender und gar perfekter Weise zu entsprechen. Solange dieser hermeneutischen Hefausforderung nicht Genüge getan wird, bleiben Begriffe wie ‹Tradition› und ‹Kultur› für Missbrauch offene und genutzte Halbwahrheiten (so Roetz 2004b, 222). Das trifft nicht nur auf die Erforschung fremder, sondern auch der je eigenen Kultur zu.

Wenn hier auf den geschichtlichen und prozesshaften Charakter von Kulturen Gewicht gelegt wird, so nicht um zu implizieren, es gebe keine relativ stabilen und permanenten Elemente, welche die Dynamik begleiten. Das Suchen nach einer globalen Ethik auf dem Wege hermeneutischer Forschung bliebe hoffnungslos, wäre eine derartige Implikation intendiert und überdies korrekt. Die Erklärung zum Weltethos lehrt uns, dass wir uns hier keine Sorgen zu machen brauchen. Wenn die Unterzeichnenden dem Dokument zustimmten, dann unter ausdrücklichem Bezug auf ihre Traditionen, also auf jedenfalls relative Permanenz. Es fehlt aber auch nicht an anderen, nun säkularen Zeugen. Ihre Ergebnisse zeigen, dass zumindest die Grundlagen einer humanen Moral überall und von alters her Bestand haben.18 Eindrucksvoll illustriert dies eine Sammlung von Quellen, vorgelegt von der UNESCO zur Feier des 20. Geburtstags der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen (vom 10. Dezember 1948). Die Sammlung reicht weit in die Geschichte der Menschheit zurück; sie weist Gemeinsamkeiten nach, die sich überall in der Kulturwelt finden. Ihr Titel spricht für sich; sie ist dem «Recht, ein Mensch zu sein», gewidmet (UNESCO, 1968). Ihre Daten stützen die Aussage, dass stabile und permanente universale Werte und Prinzipien auf der grundsätzlichen Ebene mit normativen Veränderungen auf der mehr konkreten Stufe in der Geschichte der Menschen einhergehen. Die stabilen Elemente vermitteln nachhaltige moralische Orientierung und setzen das ethische Ziel, das anzustreben ist, dieweil die Erfahrung von Veränderung uns lehrt, «dass stets alles wieder zu erfinden und zu tun bleibt» (Maheu 1969).

Heiner Roetz illustriert diesen Zusammenhang anhand der Diskussion zweier umstrittener Themen aus der Bioethik: die Verwendung menschlicher Embryonen und das reproduktive Klonen von Menschen. Unter anderem schildert er die Position von Lee Shui-chuen, Philosoph und herausragender chinesischer Bioethiker, der seine Argumente explizit auf neukonfuzianisches Denken abstützt (2004, 223-227). Lee begrüsst Biotechnologie als Mittel zur Korrektur von Mängeln der Natur. Aus seiner Sicht öffnet sie dem Menschen als freiem Mitschöpfer des Universums die Tore, um mit der Natur nach Belieben zu verfahren, ohne weitere Verpflichtung. Lee geht davon aus, dass Menschenwesen als solche nicht existieren, bevor sie eine längere Entwicklung durchlaufen haben. Erst im Gefolge dieser Entwicklung werden sie Mitglieder der moralischen Gemeinschaft. Zygoten und Blastozysten zählen noch nicht dazu, also lässt sich mit ihnen nach Wunsch umgehen.

Oft wird recht generalisierend behauptet, das chinesische Menschenbild zeitige für chinesische Wissenschaft, Wirtschaft und Industrie erhebliche Vorteile im globalen biotechnologischen und biomedizinischen Wettbewerb. Durch ein umsichtiges Argument weist Roetz nun nach, dass Lees Menschenbild sowie die daraus hergeleiteten ethischen Positionen wichtige Lücken aufweisen. Gerade auch im Konfuzianismus – Roetz bezieht sich für den Nachweis auf Menzi, einen konfuzianischen Denker aus dem vierten und dritten Jahrhundert v. Chr. (372 – 281 v. Chr.) – sind unterschiedliche, ja widersprüchliche Konzepte präsent (2004b, 226). Mit diesen Informationen ausgerüstet, gelangen wir zu folgenden Einsichten:

  • Ein Argument, das sich auf kulturelle Differenzen bezieht, hält nur dann stand, wenn es sich auf umfassende und gründliche Kenntnisse der herangezogenen Kulturen stützt.
  • Der Umstand, dass Kulturen als temporäre Errungenschaften eines komplexen, sich in Zeit und Raum erstreckenden Prozesses aufzufassen sind19, gibt Anlass zur Hoffung, in ihrer historischen Erscheinung wie in ihrer aktuellen Gestalt auf Werte und Prinzipien zu treffen, die zur Grundlage universaler Ethik werden können.
  • Was wir brauchen und nicht vernachlässigen dürfen – weder im intra- noch im interkulturellen Forschen nach gemeinsamen und schliesslich globalen Werten und Prinzipien – ist das, was Heiner Roetz ein «kulturhermeneutisch-ethisches joint venture» nennt (2004b, 221).

Wir betreten damit das Gebiet der besonderen Kompetenz, freilich auch einer spezifischen Pflicht der Geisteswissenschaften, darunter Geschichte und Systematik der Philosophie, mit ethischer Reflexion als einem ihrer Schwergewichte. Sie liefern uns die Instrumente, mit denen wir ausfindig machen, in welchen Feldern und mit welcher Reichweite sich universale normative Elemente vernünftigerweise entdecken, konstruieren und konsolidieren lassen. Die verschiedenen Aufgaben näher zu betrachten, die den Geistes- und überhaupt den Kulturwissenschaften im hier angesprochenen Gebiet zufallen, ist hier nicht der Ort20; auf drei Aspekte sei immerhin kurz hingewiesen:

  1. Im Blick auf das bisher Ausgeführte dürfte klar sein, dass den Kulturwissenschaften die Pflicht obliegt, globale Kommunikation und wechselseitiges Verstehen zu fördern mit dem Ziel, globaler Ethik den Boden zu bereiten und so für die Bemühungen um weltweiten Frieden Raum zu schaffen. –
  2. Dazu gehört die Aufgabe, faktische Politik zu analysieren und kritisch darauf hin zu untersuchen, wie weit sie tatsächlich dazu beiträgt, Frieden in die Welt zu bringen. –
  3. Vor allem aber sollen sie politische Verlautbarungen untersuchen und mit faktisch betriebener Politik vergleichen, um so herauszufinden und öffentlich zu machen, wie weit die jeweilige Praxis kohärent oder aber in pragmatische Widersprüche verstrickt ist. Diese ihre Pflicht zielt darauf ab, Wahrhaftigkeit zu fördern und für Wahrheit zu arbeiten, also einer universalen Haltung und einem universalen Wert zu dienen, um so Vertrauen und Frieden zu sichern.

Zwei weiteren Herausforderungen müssen sich die mit diesen Wissenschaften Befassten stellen. Die erste trifft jene, welche die auf Kulturen ausgerichtete Hermeneutik pflegen. Entschieden sollten sie sich der Suche nach universalen Werten, Prinzipien und Grundhaltungen zuwenden. – Die zweite richtet sich an jene, die für die Wissenschaftspolitik Verantwortung tragen. Sie sollten einen optimalen rechtlichen, finanziellen und institutionellen Rahmen schaffen für Erziehung und Bildung, für Forschen, Lehren und Lernen, für unparteiische Information und Kommunikation in der breiten Öffentlichkeit. Für die Behörden im Speziellen impliziert dies die Pflicht, dafür zu sorgen, dass aus dieser Kommunikation Entscheide erwachsen, die sich an gültig konstruierten globalen Richtlinien für das Zusammenleben humaner Gemeinschaften ausrichten.

4. Ein abschliessendes Beispiel: Die Richtlinien von CIOMS

Zur Entkräftung der Skepsis, die sich angesichts der Forderung nach normativen Universalien erheben kann, lassen sich, wie dargetan, unschwer Beispiele für Existenz und Wirksamkeit universaler Werte, Prinzipien und Grundhaltungen finden. Man denke zurück an die verschiedenen Erklärungen, Pakte und Konventionen aus dem Kreise internationaler Organisationen wie UNO und UNESCO, auch an jene des Europarates. Gewöhnlich beginnen sie mit einer Präambel oder Einleitung, welche die mannigfaltigen Quellen nennen, aus denen die Organisationen jene bereits universell anerkannten Werte und Prinzipien schöpfen, die ihren Dokumenten zur normativen Grundlage und zugleich als Legitimation dienen. Wir wissen, dass in der Regel Menschenwürde an erster Stelle steht, als Leitwert, der alle folgenden Regelungen und Erklärungen prägt. Als abschliessendes Beispiel sei indes nicht ein zwischenstaatliches, sondern ein zivilgesellschaftliches Dokument herangezogen. Dies, weil nicht zu übersehen ist, dass – zumindest in demokratischen und liberalen Gemeinschaften – moralisch bedeutsame politische Errungenschaften in der Moral und deren ethischer Beurteilung durch die Zivilgesellschaft wurzeln. Ferner illustriert das Beispiel, dass und wie es möglich wird, aus allgemeinen und abstrakten Voraussetzungen konkretere Regeln zu gewinnen. Wir vergegenwärtigen uns deshalb, wenn auch nur knapp, die Internationalen Richtlinien für biomedizinische Forschung am Menschen, in ihrer jüngsten Version aus dem Frühjahr 2002.

Erarbeitet wurden die Richtlinien vom Rat der internationalen Organisationen der medizinischen Wissenschaft (CIOMS). CIOMS wurde 1949 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und UNESCO, zwei Spezialorganisationen der UNO, ins Leben gerufen, darf aber dennoch als Spross der Zivilgesellschaft gelten. Der komplexe und langwierige Prozess, in dem die Richtlinien entstanden, 1982 erlassen, 1993 und erneut 2002 revidiert wurden, spricht dafür. Er umfasste Konsultationen und Diskussionen in der ganzen Welt, in einem interdisziplinären und plurikulturellen Umfeld, das bewusst für freie Kommentare von Einzelpersonen wie von Organisationen offen gehalten wurde.

Die Wahl der CIOMS-Richtlinien gibt uns überdies den Anlass, eine Unterscheidung einzuführen, die bislang absichtlich zurückgehalten wurde. Wenn wir uns mit dem Problem der Universalität befassen, müssen wir zwischen absoluter und relativer Universalität unterscheiden. Absolute Universalität kommt Werten und Prinzipien zu, die sich auf alle Arten menschlichen Handelns beziehen; sie sind unbedingt und ohne Ausnahme gültig. Das trifft zu etwa für die praktische Idee der Menschenwürde, für die Prinzipien des Nichtschädigens, der Gerechtigkeit, der (primären) Nichtdiskriminierung, der Gleichheit. Relative Universalität hingegen bezieht sich auf Werte, Prinzipien und Normen, die zunächst für ein besonderes Handlungsfeld konstruiert wurden. Sie gelten zwar universell, jedoch zunächst nur in diesem Feld; ihre Reichweite ist begrenzt. Im Beispiel der Forschung an Menschen trifft das zu für das Prinzip der aufgeklärten Einwilligung und für die Norm, wonach niemals das alleinige Interesse der Gesellschaft Vorrang vor den Interessen und dem Wohlergehen des individuellen Forschungs»objekts» geniessen soll, ob es sich dabei nun um einen Patienten oder um einen gesunden Probanden handle.21,22

Ein Kodex mit relativ-universalen Aussagen muss verträglich sein mit absolut-universalen Elementen. In der Regel werden letztere, wie erwähnt, durch eine Aufzählung jener Gesichtspunkte eingeführt, die als primäre Referenzen gelten und zur Legitimation der sekundären, materialen Inhalte des Kodex dienen. Sie fungieren als kritischer Massstab, welcher die Bewertung der ethischen Korrektheit der einzelnen Artikel erlaubt, auch der Erläuterungen, sofern sich solche hierzu finden, was für die CIOMS-Richtlinien zutrifft.

In der Fassung von 2002 folgt auf die Einleitung ein Abriss der Geschichte der Entwicklung, die vom Nürnberger Kodex (1947, als Abschluss des sogenannten Ärzte-Prozesses) zu den CIOMS-Richtlinien führte. Der letzte Abschnitt zählt die wichtigsten internationalen Dokumente zu den Menschenrechten auf, um zu betonen, dass sie alle die allgemeinen ethischen Prinzipien stützen, welche die CIOMS-Richtlinien tragen. Es folgt die Liste der massgebenden ethischen Prinzipien, die allesamt zum Kernbestand der allgemeinen Ethik zählen. Eine Präambel mit wichtigen Definitionen schliesst sich an, welche zugleich eine Zusammenfassung der allgemeinen ethischen und wissenschaftlichen Regeln für Forschungen am Menschen bereithält. Erst der nächste Schritt führt zu den 21 Richtlinien, in denen der Kerntext anhand einer ausführlichen Diskussion erläutert wird.

Die allgemeinen ethischen Prinzipien sowie der Weg, über den diese in konkreteren Normen ein erstes Mal präzisiert werden, geben ein lehrreiches Beispiel für erfolgreiches globales Streben nach normativen Universalien an die Hand. Es liefert ein starkes Argument für die Abwehr des praktisch kaum relevanten Einspruchs gegen die blosse Möglichkeit solcher Universalien. Bei den Prinzipien handelt es sich um Errungenschaften der allgemeinen Ethik, die sich, mutatis mutandis, in wohl allen Kulturgemeinschaften finden. Dass Menschenwürde als Leitprinzip fungiert, wurde erwähnt, im Übrigen wird auf den Text selber verwiesen. Ein Kommentar, beschränkt auf wenige Aspekte, die im gegenwärtigen Kontext von besonderer Bedeutung sind, muss genügen:

Die Einleitung unterstreicht die interkulturelle Ausrichtung der Richtlinien, ihre ausgesprochene Beachtung der Existenzbedingungen und Bedürfnisse in wenig begüterten Ländern («low-resource countries»). Sie verficht die Meinung, dass wissenschaftliche Forschung, sie selber ein inhärent universales Unternehmen, die universal anwendbaren ethischen Standards nicht verletzen dürfe, wo sie Menschen zu Objekten macht. Anerkannt wird, dass die Anwendung ethischer Prinzipien, je nach Umständen (CIOMS 2002, 17) und wenn nur oberflächliche Aspekte berührt werden, kulturbedingte Gesichtspunkte beachten soll, so etwa bei den Prinzipien der Autonomie und der aufgeklärten Einwilligung (ebd.). Die Richtlinien suchen hier einen klugen Weg, um relative und absolute Universalien in Übereinstimmung zu bringen. Unterschiedliche soziokulturelle Kontexte erlauben die differenzierte Anwendung von sonst universal verpflichtenden ethischen Standards (ebd., 11).

Auch thematisiert werden Probleme, mit denen sich die Richtlinien nicht befassen, weil in der Debatte ein Konsens nicht zu erreichen war. Die wichtigsten Punkte sind hier, erstens, der Status von Embryonen und Föten, damit verbunden die Kontroverse über die Zulässigkeit von Forschung an Embryonen, Föten und fötalem Gewebe; dann auch der Streit darüber, welches Risiko man für Leben und Wohlergehen von Embryonen und Föten ethisch legitim in Kauf nehmen kann; zweitens, der Einsatz von komparativen Mitteln in Kontrollgruppen, vor allem die Frage, ob sich ethisch vertreten lasse, in den Versuch aufgenommene Patienten bloss mit Placebo zu bedienen; und drittens, die Differenzen in Bezug auf den jeweils erforderlichen Pflegestandard. Hier geht es um die Frage, ob die Forderung ethisch akzeptabel sei, der Pflegestandard müsse den besten derzeit bekannten Möglichkeiten entsprechen, ohne Rücksicht auf die damit verbundenen Kosten, oder ob es moralisch genüge, eine gängige kostengünstigere Intervention zu wählen, mit Rücksicht auf das, was schon zur Hand ist und bezahlt werden kann. Die zweite Wahl würde nach sich ziehen, dass weniger begüterte Länder einen Standard akzeptieren müssten, auf den sich begüterte Länder gewöhnlich nicht einlassen, weil dort die jeweils verfügbare beste Intervention die Regel setzt.

Klar festzuhalten ist, dass die nicht konsensuell bereinigten strittigen Punkte die allgemeine Zustimmung zu den Leitprinzipien und damit deren Geltung nicht in Frage stellen. Für die noch offenen Probleme wird nach Lösungen gesucht, die je nach Umständen am ehesten angemessen erscheinen. Dem entspricht, dass bereits in der Einleitung deutlich gesagt wird, «die blosse Formulierung ethischer Richtlinien … werde kaum die moralischen Zweifel beseitigen, die sich im Umfeld zahlreicher Forschungsprojekte einstellen. Doch zumindest können die Richtlinien Sponsoren, Forschende und Ethikkommissionen darauf aufmerksam machen, wie nötig es ist, die ethischen Implikationen von Forschungsprotokollen und deren Durchführung sorgfältig zu erheben und zu bedenken und damit in der biomedizinischen Forschung einen hohen wissenschaftlichen und ethischen Standard zu fördern» (ebd., 13).

Ermutigend ist die Feststellung, in welch hohem Masse dieser Schluss sich mit jenem deckt, auf den die Erklärung zum Weltethos unsere Aufmerksamkeit schon zehn Jahre zuvor gelenkt hatte. Wir lasen da, dass ein «universaler ethischer Konsens für viele umstrittene Einzelfragen (von der Bio- und Sexualethik über die Medien- und Wissenschaftsethik bis zur Wirtschafts- und Staatsethik)» schwierig sei. «Doch im Geist der hier entwickelten gemeinsamen Grundsätze sollten sich auch für viele bisher umstrittene Fragen sachgerechte Lösungen finden lassen».23 Was schliesslich zählt, ist das global geteilte Bewusstsein moralischer Verantwortung; ist die allgemeine Bereitschaft, aus der Grundhaltung der Unvoreingenommenheit heraus nach gemeinsamen Werten und Prinzipien zu suchen, ganz allgemein ebenso wie in besonderen Tätigkeitsfeldern; ist das Bestreben, gemeinsam ethische Richtlinien zu erarbeiten, die es uns allen erlauben, jene Verantwortung wahrzunehmen; ist die Bescheidenheit, zu akzeptieren, dass wir kaum alle normativen Dispute zufrieden stellend beilegen können; ist die aus solcher Einstellung erwachsende Offenheit dafür, Toleranz zu üben und mit bleibenden Differenzen in Frieden zu leben.

Damit ist die grösste Herausforderung benannt, die aus der Idee von Universalität in Ethik und Politik erwächst. Sie ruft nach der Tugend, uns von uns selber zu distanzieren, zurückzutreten und der Versuchung zu widerstehen, die eigenen Interessen um jeden Preis durchzusetzen. Vielleicht liegt in dieser Forderung der verborgene oder auch verdrängte Grund dafür, dass die Möglichkeit und der Sinn von Universalität in Moral und Ethik bestritten werden. Nach wie vor bedürfen wir der Aufklärung, zusammen mit den spezifischen Untersuchungen und Errungenschaften, die uns die hermeneutischen Wissenschaften bieten – vorausgesetzt, auch diese repektieren das Gebot der Wahrhaftigkeit und folgen dem Ziel der Wahrheit, gegen alle Versuchungen von Ideologie, Gewinn und Macht.24

Anmerkungen

  1. Vgl. Paul 2007, 28, auf den ich mich hier beziehe. Dass auch eine neue Besinnung auf das richtige und gute Wohnen der Menschen in der extrahumanen Mitwelt und dass eine entsprechende humane Praxis ebenso unabdingbar sind, sei wenigstens erwähnt. Diese Aspekte sind indes nicht Gegenstand dieser Arbeit. Reich ist die Literatur, die sich mit ihnen befasst; ich beschränke mich auf die Nennung zweier eigener Texte zur Sache, Sitter-Liver 1999 und 2000, mit Angaben zu weiterführender Literatur.
  2. Unter diesem Ausdruck werden im Folgenden, der Einfachheit halber, Werte, Prinzipien und Normen zusammengefasst.
  3. Vgl. Mall 2000, 1-6, bes. 5 f. auf Seite 5 den zentralen Satz *Eine Philosophie der Natur ist die Vorbedingung für eine Philosophie des Menschen.»
  4. Vgl. z.B. folgende drei Dokumente der UNESCO, die ihrerseits zahlreiche weitere Quellen nennen: Universal Declaration on the Human Genome and Human Rights, 11. November 1997; Universal Declaration on Bioethics and Human Rights, 19. October 2005; Universal Declaration on Cultural Diversity, 2. November 2001.
  5. Für eine knappe Orientierung über die Theorien des Guten vgl. z. B. Bend, E. J. 1992, Good, Theories of the, in: Laurence C. Becker and Charlotte B. Becker (eds.) 1992: Encyclopedia of Ethics, New York and London, Vol I, 408-412. – Zur Funktion des Guten als regulative Idee oder praktisches Ideal siehe insbesondere Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 372 f., 383 f., 597 f.; angewandt in Sitter-Liver 1992, 1322 f., jetzt auch in 2002, 197 f.
  6. Siehe http://weltethos.org.
  7. Alle Übertragungen aus dem Englischen oder Französischen in diesem Text durch Verf.
  8. Für eine knappe Darstellung der Kritik an Samuel Huntington vgl jetzt Simone Dietz 2008, 20 – 26, bes. 20 f.
  9. Zur Sache, insbesondere zur Entlastung von CRU, siehe z. B. die Web-Seite der University of East Anglia, speziell http://www.uea.ac.uk/mac/comm/media/press/CRUstatements/oxburgh (14.04.2010). –
  10. http://www.ipcc.ch/. – Forth assessment report, 2007. Englische Zusammenfassung: http://www.ipcc.ch/pdf/assessment-report/ar4/wg2/ar4-wg2-spm.pdf. – Für Zusammenfassungen in deutscher Sprache siehe http://www.focus.de/wissen/wissenschaft/klima/ipce_b. – Informativ auch die Ansprache des Generalsekretärs der UNO vor dem IPCC anlässlich der Veröffentichung des Forth Assessment Synthesis Report, Valencia, Spain, 17.11.2007; http://www.un.org/apps/sg/sgstatsasp?nid=2869,
  11. Vgl. zur Diskussion der praktischen Unerlässlichkeit von Visionen bzw. Idealen und Prinzipien Sitter-Liver 1992.
  12. Erklärung 1993, 6. – Im originalen deutschen Text steht nicht «bessere», sondern «neue». Ich setze das Wort ein, das der – treffenderen – englischen Version entspricht, die mit «better» arbeitet. – Das Kapitel 1 schliesst mit folgender Klärung: «Mit Weltethos meinen wir einen Grundkonsens bezüglich bestehender verbindender Werte, unverrückbarer Massstäbe und persönlicher Grundhaltungen. Ohne einen Grundkonsens im Ethos droht jeder Gemeinschaft früher oder später das Chaos oder eine Diktatur, und einzelne [treffender wäre «zahllose»] Menschen werden verzweifeln.»
  13. Zwei Beispiele für viele; Kanyandago, 2009 und Seelmann-Park 2009.
  14. Der Originaltitel ist besser als die geläufige deutsche Übersetzung; er spricht von einem Aufeinandertreffen bzw. Konflikt oder Widerstreit von Zivilisationen.
  15. Im Unterschied zu Simone Dietz ziehe ich einen genetischen Zugang vor und erachte die Identifikation von Gemeinsamkeiten als Voraussetzung dafür, dass wir uns trotz bestehender moralischer Differenzen mit Erfolg um universale ethische Prinzipien und – in einem zweiten Schritt – Normen bemühen. Der Schritt von konkreten Differenzen mittels Abstraktion zu verbindenden übergeordneten Regeln scheint mir verheissungsvoller als der Versuch, bei abstrakten Normen einzusetzen. Allerdings sind beide Wege gleichermassen an die Voraussetzung des moralischen Standpunktes gebunden, an einen existenziellen Ausgangspunkt also.
  16. Eben jenes Verständnis, das die Kritik auch Samuel Huntington vorrechnet; vgl. Dietz 2007, 22 – 24 .
  17. Vgl. hierzu Trojanow und Hoskoté 2007, 11 – 30.
  18. Vgl. Lewis 1979, 45 – 50, auch den Annex «Erläuterungen zum Tao», 91 – 103.
  19. «Kulturen sind keine Systeme blosser Selbstbehauptung; unter dem Druck von Herausforderungen können sie ihre normativen Ressourcen überdenken. Die Debatte um Menschenrechte hat dies, zumindst in Ansätzen, gezeigt. Gerade die Ethik hat schon immer nicht nur im Bann der Kultur gestanden, sondern hat ihrerseits neue Kultur gestiftet.» (Roetz 2004a, 42).
  20. Vgl. aber z.B. Sitter-Liver 2002b, 15 – 98.
  21. Vgl. z. B. UNESCO 2005, Art. 3, Absatz 2; Council of Europe 1997, Kap. 1, Art. 2.
  22. Das wichtige und hilfreiche Konzept der Prima facie-Pflchten, von W. D. Ross eingeführt und in ethischen Reflexionen immer wieder verwendet, kann hier nicht dargestellt und kommentiert werden. Eine knappe und klare Präsentation findet sich bei Beauchamp und Walters 1994, 4. Auflage, 28.
  23. Erklärung 1993, IV. Wandel des Bewusstseins, 14 f.
  24. Hier versammelte Gedanken vorzutragen hatte ich wiederholt Gelegenheit. Für Diskussionen, Anregungen und Kritik besonders dankbar bin ich Kollegen der Türkischen Akademie der Wissenschaften (Workshop Dezember 2007, Istanbul) sowie zahlreichen Teilnehmern am Jahrestreffen der Hochschule für Politik München (April 2008). Wichtig war die Runde eines einwöchigen Kolloquiums zum Problemkreis der Universalität, das ich 2007 für die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften organisieren und publizieren konnte (2009). Die Fassung des in Istanbul gehaltenen Vortrags ist veröffentlicht: Universality – An Ethical and Political Challenge, in Emil Kansu (ed.) 2009, Bilim Etigi Sempozyumu 14-15 Aralik 2007. Ankara: TÜBA, 61 – 75.

Literatur

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  • Bertschinger, Antonia 2008, Kultur als Waffe im Machtkampf. Tibet, China und andere Konflikte: Kulturelle Differenz und Menschenrechte, in: bazkulturmagazin. Kultur- und Freizeitmagazin der Basler Zeitung. Basel, Freitag, 28. März 2008, 4 – 6.
  • CIOMS: Vgl. unten International Ethical Guidelines for Biomedical Research Involving Human Subjects 2002.
  • Council of Europe1997, Convention on Human Rights and Biomedicine, Oviedo
  • 4.IV.1997.
  • Dietz, Simone 2008, Kampf der Kulturen?, in: Information Philosophie, August 2007, Heft 3, 20 – 26.
  • Erklärung zum Weltethos 1993, hg. v. Hans Küng und Klaus-Joachim Kuschel. Piper: München und Zürich; jetzt auch über http://weltethos.org.
  • Habermas, Jürgen 1983: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Suhrkamp: Frankfurt am Main, 53 – 125.
  • Huntington, Samuel P. 1993, The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs, Summer 1993, Volume 72, Number 3.
  • Huntington, Samuel P. 2002, The Clash of Civiliztrions, And the Remaking of World order. The Free Press: London, Preface.
  • International Ethical Guidelines for Biomedical Research Involving Human Subjects 2002. Prepared by the Council for International Organizations of Medical Sciences
  • (CIOMS) in Collaboration with the World Health Organization (WHO), Geneva. – Vgl. http://www.cioms.ch/frame_guidelines_nov_2002.htm (18.04.2010).
  • International Panel for Climate Change (IPCC), Forth assessment report, 2007. Englische Zusammenfassung: http://www.ipcc.ch/pdf/assessment-
  • report/ar4/wg2/ar4-wg2-spm.pdf. – Für Zusammenfassungen in deutscher Sprache siehe http://www.focus.de/wissen/wissenschaft/klima/ipce_b.
  • Kant, Immanuel 1966, Kritik der reinen Vernunft, Auflage B (1787) in : Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt, Bd. II.
  • Kanyandago, Peter 2009, Negative Universality: Anthropological and Ethical Implications for Africa, in Sitter-Liver, Beat (ed.) 2009, 313-353.
  • Lewis, Clive S. 1979, Die Abschaffung des Menschen, Johannes Verlag: Einsiedeln (Der originale Titel lautet The Abolition of Man, or Reflections on education with special reference to the teaching of English in the upper forms of schools. Oxford University Press: Oxford 1943, später Collins, Fount Paperbacks 1978.
  • Maheu, René 1968, Préface in : le droit d’être un homme. Recueil de textes préparé sous la direction de Jeanne Hersch. UNESCO:Paris.
  • Mall, Ram Adhar 2000, Mensch und Geschichte. Wider die Anthropozentrik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt.
  • Paul, Gregor 2007, Einführung in die interkulturelle Philosophie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt.
  • Roetz, Heiner 2004a, Der Mensch als Mitschöpfer. Bioethik und kulturelle Differenzen, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 42, 20. Februar 2004, 42.
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  • Seelmann-Park, Hoo-Nam 2009, Universal Values or the Tyranny of Values? In: Sitter-Liver, Beat (ed.) 2009, 97-118.
  • Sitter-Liver, Beat 1992, Macht Klugheit Prinzipien entbehrlich? Zur Auflösung einer falschen Entgegensetzung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40, 1992, Heft 11, 1313 – 1332.
  • Sitter-Liver, Beat 1999, ‹Würde der Kreatur›. Eine Metapher als Ausdruck erkannter Verpflichtung, in: Philosophisches Jahrbuch 106. Jahrgang 1999, 2. Halbband, 465 – 478.
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  • Sitter-Liver, Beat 2002a, Der Einspruch der Geisteswissenschaften. Ausgewählte Schriften, hg. v. Rainer J. Schweizer. Universitätsverlag Freiburg Schweiz:
  • Freiburg/Schweiz.
  • Sitter-Liver, Beat 2002b, Die Geisteswissenschaften und ihre Bedeutung für unsere Zukunft, in: ders., Der Einspruch der Geisteswissenschaften. Ausgewählte Schriften, hg. v. Rainer J. Schweizer. Universitätsverlag Freiburg Schweiz: Freiburg/Schweiz, 15 – 98.
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  • Trojanow, Ilija und Hoskoté, Ranjit 2007, Kampfabsage – Kulturen bekämpfen sich nicht – sie fliessen zusammen. Karl Blessing-Verlag / Random House GmbH: München.
  • UNESCO 1968, le droit d’être un homme. Recueil de textes préparé sous la direction de Jeanne Hersch, Paris. UNESCO: Paris.
  • UNESCO 2005, Universal Declaration on Bioethics and Human Rights, October 2005. UNESCO: Paris.

April 2010, 5. Fassung