Vom Wert des Unnützen

Seit Monaten schulde ich dem Präsidenten des Wissenschafts- und Technologierates «ein paar Zeilen» zum Wert des Unnützen. Sie sollen, unter anderem, für Forschung, die nicht einem vorweg festgelegten Zweck zu dienen hat, plädieren. – Bei jedem Ansatz sträubt sich die Feder neu: Die selbstgestellte Aufgabe ist unklar, im Titel steckt, je nach Lesart, ein Widerspruch. Von wegen «nur ein paar Zeilen»! Kein Zen-Lehrer bin ich und auch kein Haiku-Dichter. Wär’s anders, würden meine Worte verstanden? Anleihen drängen sich auf: «Mensch, werde wesentlich; denn wann die Welt vergeht, / So fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht». Doch um des Angelus Silesius Verse zu erschliessen, bedürfte es vieler Seiten, stundenlanger Gespräche. Ihr Sinn, wie wohl für alle offen, ist nicht leicht zu gewinnen.

Wo sich über Nutzen nur sprechen lässt, wenn die Perspektive des rationalen, auf materielle Optimierung gerichteten Umgangs mit knappen Gütern eingenommen wird, fallen Sinn und Nutzen auseinander. Sinn ist nie knapp; er erfüllt einen oder versagt sich. Dann herrscht das Flache, droht das Dunkle. Sinn zu finden, kann also nützen. Wir müssten uns über die Bedeutung des Begriffs ‚Nutzen‘ verständigen, bevor wir über einen Wert des Unnützen nachdenken. Doch auch so schon kommen wir weiter. Denn lassen wir den Begriff im Weiten, Unbestimmten, scheint das Problem gar nicht beim Nutzen, sondern beim Wert zu liegen: Welcher Nutzen als wertvoll gilt, gesellschaftlich anerkannt wird, das ist strittig. Was also meint ‚Wert‘, und was ist wertvoll? Zur Veranschaulichung: Einer grossen Partei, so lasen wir jüngst, sind die Geistes- und Sozialwissenschaften wichtig, weil sie die Errungenschaften von Naturwissenschaften und Technik vermitteln. Eine klare zweckrationale Zuordnung. Sie streift die Geisteswissenschaften, trifft sie nicht im Wesentlichen.

Das, worum Geisteswissenschaften sich jenseits all ihrer Materialien und Methoden bemühen, ist der Sinn, nicht der nach Indikatoren wie Bruttosozialprodukt, Standortvorteil, Wettbewerbskraft oder Wirksamkeit von neuen Medikamenten und Therapien messbare Nutzen. Sinn, welcher uns mit Grenzerfahrungen wie Glück, Liebe, Leiden und Sterben, Schönheit und Grauen so umgehen lässt, dass wir durch sie in besonderer Weise menschlich werden.

Bernard Le Bovier de Fontenelle, Sekretär der «Académie des sciences», hatte es leichter, als er in der Vorrede zum Jahrbuch der Akademie für das Jahr 1699 «den Nutzen der Mathematik und der Naturwissenschaften» erläuterte. Auch und gerade wo Projekte ohne augenfälligen Zweck vorangetrieben werden, fällt für die Technik Ungeahntes ab. Sein Argument, zeitgemäss abgewandelt, feiert regelmässig Urständ. Mit Sinnschöpfung hat es insofern zu tun, als für de Fontenelle – nicht anders als für grosse Erfinder, Forscherinnen und Wissenschafter unserer Epoche – ausgemacht ist, dass wissenschaftlich-technischer Fortschritt sich mit moralischer Läuterung verbindet. Postmodern,geben wir uns skeptisch. Die Geschichte belehrt uns laufend eines Besseren. Da wird Sinn rar und bleibt doch unabweisbare Aufgabe. Sein Wert ist existenziell, nicht instrumentell, und so wird er wertlos, wo Selbstbestimmung und -vergewisserung ausschliesslich zur Privatsache erklärt werden, im Geiste einer nur indi-vidualistisch geschliffenen, sich zuweilen mit Sinnlosigkeit arrangierenden Freiheit.

Um die Möglichkeiten des Menschseins ausloten zu können, bedürfen wir, neben vielfältiger Erfahrungen, darunter wissenschaftlicher und technischer, der Erinnerung, verbunden mit Besinnung. Dazu verhelfen uns Aus- und Berufsbildung, gewiss, doch mehr tut not: Bildung zur Fülle unseres Daseins. Diese zu gewinnen, helfen die Geistes- und auch die kritischen Sozialwissenschaften. Zur Bildung, die sie vermitteln, gehört das erfahrungsgesättigte Ver-ständnis von Sätzen wie diesem, dass niemand «die volle Bedeutung dessen verstanden hat, was es heisst moralisch zu sein, wenn er nicht gelernt hat», die Eigenheit und den Selbstwert der Dinge, die wir anders als instrumentell schätzen und lieben, zu achten (nach H. Rolston jr.). Oder der Sinn für die folgenden Zeilen: «Welchen präzisen Zweck erfüllt ein Elementar-teilchen?» Die besten Physiker wissen selbst nicht, was dabei herauskommen könnte. Der Technikphilosoph Hans Sachse vertritt mit guten Gründen die These, «das zweckfreie Spiel, die Lust am Grenzen-Überschreiten» sei der eigentliche Motor der technischen Entwick-lung, so dass man behaupten könnte, nur der sei ein guter Techniker, der das Überflüssige im Sinne habe (D. Mutschler). Das «Überflüssige» also als Gegenbegriff und -gewicht zum
«Nützlichen», als das Humanisierende schlechthin? Das hat uns Ortega y Gasset schon in den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts gelehrt.

Einem Staat, der mehr ist als Nachtwächter, und seinen Institutionen, auch jenen privaten, denen er Aufgaben überträgt, ist das Unnütze teuer. [Vgl. Bulletin der SAGW, 3/2001]