Werte – eine ständige Herausforderung

Prolog

Über Werte lässt sich trefflich streiten. Dies deswegen, weil sie weder von sich aus noch auf Grund einer allmächtigen transzendenten Instanz gelten. Werte verpflichten uns erst dann und nur so weit, als wir als Einzelne und als Gemeinschaften unterschiedlicher Form uns dafür entscheiden. Ihre Geltung baut sich auf als Konstrukt eines idealerweise gewaltfreien Diskurses autonomer Teilnehmender.

Das trifft nicht zuletzt für die so genannten europäischen Werte zu, um die hierzulande in der Auseinandersetzung mit anderen Wertegemeinschaften argumentiert und gerungen wird. Doch ob, wie weit und wie tief sie sich selbst im europäischen Raum durchsetzen, steht nicht von vornherein fest, sondern hängt davon ab, welche Anerkennung sie hier finden. Auch europäische Werte können in Europa zerfallen, und neue mögen, je nach dem Wandel existenzieller Interessen, heranwachsen. Ein aktuelles Beispiel liefert der so genannte Neoliberalismus, der Werte des klassischen Liberalismus zu Fall bringt: Manches von dem, was die Aufklärung in der Individual- und hier besonders in der Sozialethik errungen hat, geht in der Egozentrik des Neoliberalismus (man denke an die «Rational Choice Theory») verloren. So jedenfalls lautet eine von kritischen Ökonomen heute vertretene Überzeugung. – Ein zweites Beispiel liefert eine Grossbank, die in ihrer Werbung für Anlagefonds hervorhebt, Anleger vermöchten mit einem Fonds auf mehrere Werte gleichzeitig zu setzen, auch etwa auf ethische, ökologische und soziale Werte. Von einem Vorrang oder von übergreifenden moralischen bzw. ethischen Pflichten ist nirgends die Rede.

Für weitere Beispiele, welche die geläufige Rede vom Wertezerfall untermauern, ist kein Platz. Beschränken wir uns auf einige Überlegungen zu den europäischen Werten, die wir doch alle – Irrtum vorbehalten – schützen und stärken möchten.

Thesen

  1. Die Grundfunktion von Werten überhaupt besteht darin, dass sie unser Denken und Handeln leiten. Sie erlauben uns eine Lebensform, die uns und unseren Gemeinschaften Sinn und Bedeutung vermittelt. So bereiten Werte den Boden für individuelle und soziale Identität und damit den Grund für individuelle und gemeinschaftliche Verantwortung (diese verstanden als Konkretisierung von Verantwortlichkeit, einer ontologischen Bestimmung der Menschen als im Prinzip vernünftiger Wesen).
  2. Werte sind kulturelle Errungenschaften, gewonnen von Individuen und Gemeinschaften in ihrer Auseinandersetzung mit menschlicher und nichtmenschlicher Mitwelt. Sie sind Früchte eines offenen Prozesses, nicht rein subjektiv, aber auch nicht objektiv in dem Sinne, dass diese Früchte selbständig oder in einem aussermenschlichen Bereich existierten. Ihre Geltung hängt, wie oben schon angetönt, davon ab, dass die Gemeinschaftsglieder sich diese Geltung gegenseitig immer neu bestätigen – theoretisch, vorab jedoch praktisch. In solchem Diskurs und solcher Praxis können Werte der Kritik, der Veränderung, dem Ersatz oder der Aufhebung unterzogen werden. Was nicht heisst, dass sie nach Belieben austauschbar wären.
  3. These 2 setzt als diskursive Prozesse Liberalität und Demokratie voraus. Sie verlangt also bereits eine Reihe von auch pädagogisch relevanten, nicht willkürlich austauschbaren Werten, die von diktatorischen Regimes verneint werden. Solche Regimes können Werte nach Belieben ein- und aussetzen, verletzen indessen damit die Grundfunktion von Werten: Lebensorientierung, getragen von Kreativität und freier Zustimmung. Dass letztlich nur diskursive Schöpfung von Werten als legitim angesehen werden kann, ergibt sich aus einer Beobachtung: dem heute weltweit immer neu auflodernden Protest gegen diktatorisch und totalitär verordnete Werte.
  4. Werte lassen sich hierarchisch ordnen, sind aber auch Konflikten ausgesetzt. Konflikte können zwischen Werten, die hierarchisch auf gleicher Stufe stehen, entspringen, jedoch auch zwischen als vermeintlich absoluten (z. B. Wissenschaftsfreiheit vs. Würde der Kreatur) und relativen Werten. Interkulturelle oder intrakulturelle Differenzen (Tötungsverbot vs. Tötungspflicht) aufgrund von als absolut ausgegebenen Werten sind unter Leitung der Werte von Toleranz und Gewaltlosigkeit zu bewältigen (vgl.Samuel Huntington, 1993), wo immer der übergeordnete Wert friedlicher Koexistenz sowie unverfügbare Menschenwürde als massgebend anerkannt werden.
  5. Was sind denn nun aber europäische Werte? Wo doch, im Prinzip, Werte als universalisierbar, also als universell gültig angesehen werden? – Eine Antwort gibt vielleicht Leszek Kolakowski: Wenigen nur sei es gelungen, sich gänzlich des zerstörerischen Hassgefühls zu enthalten und den Feinden Gutes zu erweisen (vgl. dazu u. a. Jesu Anspruch in der Bergpredigt). «Auf den Schultern dieser wenigen ruht das Gebäude unserer Zivilisation, und das Geringe, wozu wir fähig sind, verdanken wir ihnen.»
  6. Angemessen ist es wohl, wenn wir uns, insbesondere anderen Kulturgemeinschaften gegenüber, der Bescheidenheit befleissigen und europäische Werte einfach als die in den verschiedenen Kulturen des Abendlandes herangewachsenen Werte verstehen. Nie war in der Geschichte das Abendland eine isolierte Insel; seine Kulturen lebten und leben vom Austausch mit anderen Kulturgemeinschaften. So verwundert es nicht, dass sich europäische Kernwerte überall in der Welt finden, wie Grundwerte aus anderen Kulturfeldern in unseren Gefilden, als gemeinmenschliche Kernwerte. So zum Beispiel Grundgedanken der Menschenrechte (vgl. die von Jeanne Hersch dirigierte Sammlung «le droit d’être un homme». Unesco. Paris 1968). Die Menschenwelt musste nicht auf die abendländische Aufklärung warten, was den abstrakten Gedanken der Menschenwürde betrifft. Hingegen stösst die praktisch wirksame Universalität der Menschenrechte auch im Bereich abendländischer Kultur immer noch auf scharfe Grenzen (vgl. z. B. den Jahresbericht 2009 von Amnesty International).
  7. Abendländischer ethischer Leitwert ist seit der Antike Humanität (in allen ihren Ausformungen, vgl. z. B. Cicero). Unverfügbare Würde jedes einzelnen Mitmenschen
    (exemplarisch Kant) ist damit vorausgesetzt, der hohe Wert der Toleranz unmittelbare Folge. Diese impliziert konstruktive Vermittlung von Differenzen in Wertauffassungen weltweit, soweit diese für den Weltfrieden unerlässlich ist. Ein Beispiel: die «Erklärung zum Weltethos», als Idee im abendländisch-kulturellen Umfeld aufgeblüht, weltweit diskutiert und ausgearbeitet, vom Parlament der Weltreligionen in Chicago verabschiedet
    (September 1993).
  8. In diesem Sinne: Der Streit um den hohen Wert von Bildung und Erziehung, wie er zurzeit in Nigeria zu toben scheint (Gruppe «Boko-Haram» = «Erziehung verboten»
    [Haussa]), ist nicht ein Kampf zwischen der westlichen und einer anderen Kultur, sondern die – einseitig aufgezwungene und gewalttätige – Auseinandersetzung um die praktische Verwirklichung des weltweit hochgehaltenen (z. B. Unesco) Ideals der Humanität.

Coda

In jeder ethischen oder auch politischen und ästhetischen Argumentation findet sich der Bezug auf Werte. Eben darum bleibt jede derartige Argumentation in bestimmter Hinsicht prekär. Unter normativen oder wertgebundenen Voraussetzungen erstrebt sie stets das Ziel der Objektivität bzw. Universalität, richtiger: sie verfehlt es. Denn «irgendwo in den Ausgangspunkten der Überlegung – vielleicht in einer oder mehreren der angenommenen Prämissen oder irgendwo in der Form des Argumentierens – [findet sich] wenigstens ein Element […], das sich nicht als objektiv gültig erweisen lässt. […] Die Autorität oder Beweiskraft dieses Elements ist in nichts Objektivem begründet, sondern in der Tatsache, dass eine Wahl getroffen, d. h. so und nicht anders entschieden wurde.» (John Leslie Mackie 1981. Ethik. Auf der Suche nach dem Richtigen und Falschen. Stuttgart: Reclam, S. 31 / 32). – Trifft diese These zu – und ich denke, das tut sie -, besteht ihre Bewährung nicht in einer entsprechenden, auf theoretische Richtigkeit ausgerichteten Argumentation, sondern in der Bekräftigung durch eine ihr entsprechende persönliche und gesellschaftliche Praxis, für Dritte also in ihrer praktischen Überzeugungskraft. Das heisst für alles persönliche und gesellschaftliche Verhalten, dass es unter Beachtung dieser These zu entwerfen und zu realisieren ist, eben in der praktischen, nicht einfach nur in der theoretischen Bewährung der Idee der Humanität.

Das gilt für den abendländischen Kulturraum in erster Linie in Bezug auf die Menschenrechte, wie sie durch deren Allgemeine Erklärung (UNO 1948) sowie in der Konkretisierung durch die beiden Menschenrechtspakte (1966) verbrieft sind (zahlreiche andere, auf diesen Menschenrechts-Erklärungen basierende Konventionen und Richtlinien im europäischen Raum bleiben hier unerwähnt). Auch hier entscheidet primär die konsequente persönliche und politische Praxis, nicht die möglichst fehlerlose Ausarbeitung einer Theorie.

Hinweis

Die Literatur zum Thema ist reich, als Überblick hilfreich empfielt sich ein Blick ins Dossier der Schweizer Monatshefte 85./86. Jg., Dezember/Januar 2005/2006 «Bedrohung und Behauptung westlicher Werte»; darin besonders die Beiträge von M. Campell: «Human Rights Are Indivisible» und Bassam Tibi: «Gefährdet der Islam europäische Werte?»

20110218 – BSL