Wider Wandel als Ideologie

Nicht gegen umsichtigen Wandel und Anpassung, die kreativ und lebensförderlich sein
können, rede ich. Ebenso wenig gegen den klugen Entwurf, die Vorwegnahme von noch nicht Erfahrenem, die Chancen, Besseres eröffnen. «Solange Menschen leben, werden es
Wesen sein, die sich selbst immer noch zu erringen haben.»1 Wogegen ich protestiere, ist das Dogma der Veränderung. «Vous vivrez en changeant», wurde ich einst im Hinblick auf
Institutionen, die mir lieb sind, ermahnt. Ein analytischer Satz, sofern man Leben und Wandel gleichsetzt. Doch war er normativ gemeint, dazu absolut. Das macht ihn ideologisch, auch platt. Nicht, dass Lebewesen sich entfalten, damit wandeln, ist neu – Heraklit erinnerte uns vor Jahrtausenden daran, wir vermöchten nicht zweimal in den gleichen Fluss zu steigen. Das grosse Geheimnis, auf das uns die Molekularbiologen heute hinweisen, ist die Stabilität: das charakterisierende Sichdurchhalten der Gene in Individuen, über Generationen hinweg, ja für ganze Arten bis zu deren Aussterben 2. Leben ist also immer auch Stabilität in und aus Zeit und Geschichte, gerade darum ein Wunder.

Wer uns rät, unverwandt auf Wechsel aus zu sein, «zukunftsträchtig» zu denken, riskiert Kopflosigkeit. Denn Menschenköpfe (und -herzen) sind geschichtliche Ereignisse; sie sind, was sie sind, und sie verstehen sich zureichend erst aus ihrer Geschichte, die sie in verantworteter Gegenwart auf die Zukunft hin leben. Das gilt für menschliche Wesen wie für deren Institutionen, also auch für ihr Bestreben, sich in dieser Welt zurecht zu finden und nach sittlich-politischen Grundsätzen einzurichten. Leben heisst immer auch Bestand haben (bestehen), sich bewahren, die Dreidimensionalität der Zeit existenziell verwirklichen. Dazu gehört, sich dem Dogma des Wandels der «postmodernen Schlingel» (G. Ropohl) zu widersetzen. «Vous vivrez en vous préservant dans le temps et dans l‘histoire», müsste die Maxime lauten. Braucht es mehr um zu zeigen, wozu Geisteswissenschaften unabdinglich sind? Gerade auch für Staat und Wirtschaft?

Wie wenig Veränderung als solche schon Erfolg verbürgt, illustriert ein Lehrstück aus jenem Bereich, in dem Innovation zum Zauberwort und «Re-engineering» zur Panazee geworden sind. Von zeitgemässer, das heisst zugleich kritischer Marketing-Theorie lässt sich Wichtiges lernen.3 Was im Gefolge – und als Auswirkung – des «(leider) amerikanischen Management-Denkens» austauschbar geworden ist, wird sich nicht durchhalten. Nachhaltiges Vertrauen Dritter entspringt nicht reduktionistischen und abstrakten Konzepten, sondern hängt am Besonderen, am Einmaligen. Am Besonderen, das um seine Geschichte weiss und, darauf gestützt, einen Entwurf wagt. Massgebend ist dabei nicht Wettbewerbsdenken, sondern die Kraft, in sich selber zu ruhen, auf das, was die eigene Identität prägt und in der Zeit bewährt, zu pochen. Die erforderliche Selbstsicherheit resultiert aus einer langen Tradition und der Besinnung, wie geisteswissenschaftliche Forschung sie zustande bringt – für Individuen, aber ebenso für Institutionen, für Unternehmen. Dagegen bleibt die «Fiktion des homo oecono-micus eine den Menschen schwer verstümmelnde Reduktion», auf längere Zeit vermutlich verheerend. «SAir Group« tönt nichtssagen, blieb leer; Ideologen haben es gegen das ver-trauens- und wertvolle «Swissair» gekauft (frei nach Th. Otte).

Was gehört sonst noch zu den wenig hilfreichen, weil inhaltsleeren Abstraktionen? Formen, die uns auch von der offiziellen Bildungs- und Wissenschaftspolitik als Ziele serviert werden: «Kundenorientierung, Customer Focus, Qualität, Zielgruppe… Aktualität, Relevanz usw.»4 Und eben: «Vous vivrez en changeant.»

Hierzu nochmals der Originalton Ottes: «Wir denken in Transformationsprozessen, restrukturierten Unternehmen und vernetzten Geschäftsarchitekturen, kritischen Grössen und Hyperwettbewerbsszenarien … Die aktuellen Schnelldreher im Sortiment der Grossberatungen.

Gerade die grössten Unternehmen …werden seit Jahren durch eine Reorganisation in die andere geprügelt: «challenge of permanent change». Erst wird diversifiziert, dann konzentriert, dann sogar fokussiert, schlussendlich wieder integriert, also erneut defokussiert. Dabei wird laufend die Customer Relationship gemanagt. Läuft der Kunde bei so viel sinnloser Veränderung doch weg, wird noch rasch ein Kundenbindungsprogramm aufgelegt.»5 – Studierende gelten zur Zeit gemeinhin als Kunden.

Zwar setzt sich Thomas Otte in seinem hier herangezogenen Artikel kritisch mit der jüngeren Swissair-Geschichte auseinander. Es gibt indes gute Gründe, auf die Wissenschaftspolitik zu übertragen, was er, zum guten Teil in durchaus allgemeiner Form, zu bedenken gibt. Dass aus Metaphern sich Entscheidendes lernen lässt, ist nicht nur der Philosophie- und der Wissenschaftsgeschichte vertraut.

Die Beschäftigung, mit dem, was jeweils ist und herrscht, bleibt bodenlos, erwächst sie nicht aus geschichtlicher Tiefe. Nur als Geschichte ist Gegenwart lebens- und zukunftsoffen. Das muss der – im übrigen sehr wohl zu beherzigende – Appell an die Geistes- und Sozialwissen-schaften, sich mit den Problemen der Gegenwart zu befassen und «zukunftsfähig» zu werden, bedenken. Die Ideologie des Wandels verliert ihren trendigen Glanz, wenn wir, durch eindring-liche Erforschung unserer selbst und im Wissen um die Bedingungen unserer soziokultureller Existenz, dem Volksmund lauschen, der da spottet: «Plus ça change, plus ça reste la même chose».

  1. Karl Jaspers: Kleine Schule des philosophischen Denkens. München 1965, 59.
  2. Vgl. Evelyn Fox Keller: Das Jahrhundert des Gens. Campus, Frankfurt a. Main/New York 2001, S. 9f., 20, Kap.1.
  3. Vgl. Thomas Otte: Swissair – Requiem auf ein Paradigma, in: persönlich. Die Zeitschrift für Marketing und Unternehmensführung. Oktober 2001, 50–55.
  4. Th. Ott, op. cit. 51–53.
  5. Op cit. 51.