Im Entwurf zum Transplantationsgesetz (Bundesgesetz über die Transplantation von Orga-nen, Geweben und Zellen) wird verschiedentlich auf den Stand von Wissenschaft und Technik Bezug genommen. Dieser Stand dient als Massstab für Angemessenheit und Rechtfertigung von Massnahmen; wird er beachtet, gelten rechtliche – und damit auch ethische – Pflichten als erfüllt. So gleich zu Beginn des Gesetzes, wo Art. 4 die allgemeine Sorgfaltspflicht wie folgt umreisst: «Wer mit Organen, Geweben oder Zellen umgeht, muss dabei alle Massnahmen treffen, die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderlich sind, damit die Gesundheit von Mensch und Tier nicht gefährdet wird.» Der Bezug auf den Stand von Wissenschaft und Technik hat etwas Beruhigendes; man geht davon aus, dass es dort, wo Eingriffe sich nach ihm richten, mit rechten Dingen zu und her geht. Doch was steckt, näher besehen, hinter dem – durchaus wichtigen – Kriterium?
Moderne Wissenschaft und Technik bilden einen dynamischen Prozess, der unter anderem von Neugier und Fortschrittswillen angetrieben wird. Stillstand widerspricht ihrem Wesen. Dann aber ist die Vorstellung eines Standes von Wissenschaft und Technik eine Abstraktion: Ein Moment im dialektischen Prozess mit seinen Fragen und Errungenschaften, mit seinen Thesen, Kritiken und Ungewissheiten wird gleichsam eingefroren; wir können, unserer Erfolge trotz des antreibenden Zweifels gewiss, Atem holen, aus der Freude des Augenblicks Mut zu neuen Abenteuern schöpfen. Statt von einer Abstraktion, sprechen wir wohl besser von einer Fiktion. Sie dient uns als Kriterium nicht der Wahrheit und der Richtigkeit schlechthin, sondern ausreichender Gewissheit, im theoretischen (faktischen) wie im praktischen (sittlich-politischen) Sinne.
Diese allgemeine Erwägung bedarf der Differenzierung. Wo wissenschaftliche Bestrebungen zur Reife gelangt sind, herrscht in der entsprechenden wissenschaftlichen Gemeinde breiter Konsens bezüglich dessen, was auf Zusehen hin gilt, was man weiss und vermag. Trifft das zu, ist der Bezug auf den Stand von Wissenschaft und Technik sinnvoll und zweckmässig, gerade auch im Gesetz. Wo wir uns allerdings an der Forschungsfront befinden, liegen die Verhältnisse anders. Hier treffen wir auf Ungewissheiten, die etwa in widersprüchlichen Meinungen von ähnlich qualifizierten Fachleuten Gestalt finden. Zur Forschungsfront gehören Irrwege, Holzwege, auch Laufgräben. Denn hier herrscht scharfer Wettbewerb, kommen auch andere als auf Wahrheit und Richtigkeit bezogene Motive ins Spiel. Persönliche Geltung, wirtschaftliche Interessen, Lust an Macht etwa. Die Wissenschaftssoziologie und -theorie hat diese Prozesse längst transparent gemacht. Der Stand von Wissenschaft und Forschung gerinnt unter solchen Bedingungen zur fragwürdigen Fiktion. In Gesetzesform gegossen, bereitet er möglichem Missbrauch den Boden.
Die Fiktion wird umso bedenklicher, wo sich mit der Anwendung von Wissenschaft und Technik Gefahren und oft unkalkulierbare Risiken für Menschen und Mitwelt verbinden, zugleich jedoch neben persönlichen und institutionellen Interessen ökonomische Ziele den Forschungsprozess vorantreiben. Die Referenz auf den Stand von Wissenschaft und Technik kann dann zur verschleiernden Beschwichtigung geraten. Schreibt das Gesetz die Berücksichtigung des jeweiligen Standes vor, sanktioniert es unter Umständen Positionen, die sich ganz einfach kraft grösserer Macht oder besseren Lobbyings durchgesetzt haben. Beispiele für solche Prozesse sind schnell zur Hand. Man braucht sich nur die Kontroversen um die Gleichsetzung des menschlichen Todes mit dem Hirntod, um Nahrungsmittel mit genveränderten Organismen (GVO), um die Freisetzung von GVO oder um die mit der Xenotransplantation verbundenen Infektionsrisiken vor Augen zu halten. Hier befinden sich Wissenschaft und Technik auf dem gesellschaftlichen, moralischen und politischen Prüfstand. Wenn sie wegen mangelnder Transparenz und unnötig poussierter Rhetorik die Probe nicht bestehen, schaffen sie in der Bevölkerung jenes Malaise, welches das Vertrauen in die Wissenschaft – ein hoher Wert – aushöhlen.
Dieses Vertrauen wird – was man noch immer zu wenig bedenkt – auch dadurch gefährdet, dass den Erkenntnissen und Verfahrensweisen von Wissenschaft und Technik durch die gesetzliche Verankerung ihres Standes ein Wahrheits- und Richtigkeitsmonopol zuerkannt wird. Das entspricht der Entwicklung der modernen wissenschaftlich-technischen Rationalität, teilt indes auch deren Grenzen. So impliziert die Erkenntnis von Fakten nicht zugleich ein Wissen um vertretbare Ziele des Handelns. Hierfür ist aus anderen Quellen zu schöpfen, müssen sittlich-politische Diskurse geführt und gesellschaftliche Entscheidungsprozesse gestaltet werden. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass auch andere Mittel für Einsicht und Erfahrung zum Zuge kommen, Intuitionen etwa, Gefühle und seit langer Zeit herangereifte, wohlüberlegte Wertüberzeugungen (Menschenwürde, Humanität, Mässigung u. a. m.). Werden sie ausgeblendet, greift früher oder später Frustration Platz und wächst die Gefahr, dass das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, will sagen dass die für die Hebung menschlicher Lebensqualität unverzichtbaren Errungenschaften von Wissenschaft und Technik verschrien werden.
Diese Verhältnisse sind auszuleuchten, ihre theoretischen und praktischen Konsequenzen müssen nicht nur erhoben, sondern auch in der Gesellschaft zur Wirkung gebracht werden. Anders lässt sich langfristiges Vertrauen in Wissenschaft und Technik nicht gewinnen. Wie auch sollte sich Vertrauen gegenüber Prozessen einstellen, denen die Betroffenen ohnmächtig gegenüberstehen, während jene, die in ihnen wirken, diese Prozesse mit dem Dogma der Unaufhaltbarkeit besiegeln?
Wer dieser – zugegeben: groben – Skizze Verständnis entgegen bringt, würde Art. 4 des Transplantationsgesetztes vereinfachen und schreiben: «Wer mit Organen, Geweben oder Zellen umgeht, muss dabei alle Massnahmen treffen, die erforderlich sind, damit die Gesundheit von Mensch und Tier nicht gefährdet wird.» Die mit der Referenz auf den Stand von Wissenschaft und Technik hervorgerufene Verengung des gesellschaftlichen Diskurses fiele dahin.
In Elisabeth de Fontenays Essay «Les bêtes dans la philosophie et la littérature » findet sich ein Satz, der veranschaulicht, worum es geht. Er schliesst an ein Zitat aus Th. W. Adronos und M. Horkheimers «Dialektik der Aufklärung» an: «’L‘homme a de l‘animal un savoir, l‘animal, lui, souffre de l‘homme, c‘est tout: impossible d‘inverser la relation que énonce la structure du monde’. Il me semble qu‘il y a dans ce pessimisme beaucoup plus d‘espérance que dans une soumission naïve à l‘invincible progrès.» Bleibt anzufügen, dass wir am «Ende des 2. Jahrtausends … reif dazu sein» sollten, «wissenschaftliche und ethische Differenzen auszuhalten» (K.-P. Jörns). [Vgl. Bulletin der SAGW, 1/2000]