Zur Konstruktion einer Kriterien-Kaskade

verstanden als Vorschlag für eine revisionsoffene Wegleitung

Die bisherigen Ausführungen lassen den Versuch wagen, sie in einer Ordnung von Allokationskriterien in Form einer Kaskade zu systematisieren. Dabei folgen wir der in der Literatur verbreiteten und wohl begründeten Einsicht, dass sich Allokationsentscheide in der Regel nur unter Heranziehung einer Reihe von Kriterien zureichend, und das heisst auch gerechtigkeitskonform, treffen lassen. Überdies ist nie zum Vornherein ausgemacht, welches Gewicht dem einzelnen Kriterium in der konkreten Entscheidungssituation zuzumessen ist. Wir haben insbesondere gesehen, wie bedeutsam die Rolle der Billigkeit ausfällt – und wie wichtig es ist, dem Fehlschluss der nicht sachgemässen Exaktheit zu widerstehen.

Sachgemäss hingegen ist es, den Entscheidungsinstanzen eine allgemeine und verbindliche Wegleitung an die Hand zu geben und ihnen zugleich zu erlauben, im Einzelfall nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden. Erforderlich ist allerdings, dieses Verfahren und seine Grundlagen in der Gerechtigkeitsgemeinschaft durchsichtig zu machen und jene Grundlagen auf in der Gemeinschaft anerkannten Wegen zu legitimieren.

1. Bedarf

Der Orientierung am qualifizierten Bedarf, verstanden als medizinisch ausgewiesene Dringlichkeit, gebührt die erste Position in der Ordnung der Prioritäten. Hier geht es um Massnahmen
– zur Rettung von Leben oder
– zur Vermeidung von Einbusse an zentralen Lebenschancen durch Erstreckung der Wartezeit.

2. Vernünftige Erfolgschancen 1

Der Vorrang der Dringlichkeit lässt sich relativieren durch das Gebot des vernünftigen Erfolgs. Bei dessen Erfüllung werden zunächst einer Transplantation zwingend entgegenstehende Faktoren betrachtet. Dazu zählen fehlende Blutgruppen-Kompatibilität; positives Ergebnis beim Test auf Antikörper; fehlende Gewebeverträglichkeit; nicht ausreichende Grösse und Leistungsfähigkeit des Organs; die Unmöglichkeit, innerhalb der Ischämietoleranz zu transplantieren; akute schwere Erkrankung.

3. Vorrangregeln 1

Im Falle einer Konkurrenz fällt der Vorrang zu
– der Person, deren Gesundheit für von ihr unmittelbar Abhängige existenziell entscheidend ist und die sich nicht ersetzen lässt,
– der Person, deren Lebenszeit wesentlich kürzer ist als jene ihrer Konkurrenten.

4. Der Zufall als Garant formaler Gerechtigkeit

Fehlen, bei Konkurrenz, die genannten Möglichkeiten zur Differenzierung, entscheidet im Falle dringend erforderlicher Versorgung das Los über die Zuteilung.

V5. ernünftige Erfolgschancen 2

Bei nicht dringlichem Bedarf entscheidet der aufgrund strikt medizinischer Kriterien erhoffte grössere medizinische Nutzen über die Rangordnung der auf eine Transplantation Wartenden. Zu beachten sind die in Punkt 6.2 genannten Faktoren sowie das Ausmass der Übereinstimmung von Organalter und Empfängeralter («age matching»); der Wert der Wahrscheinlichkeit, innerhalb der Ischämietoleranz transplantieren zu können; der Grad der Übereinstimmung der HL-Antigene zwischen spendender und empfangender Person; der Status allfälliger Krankheitserreger. Die – auch organspezifisch zu berücksichtigenden – medizinischen Erfolgsfaktoren, die vorweg mit maximalen Punktzahlen zu gewichten sind, werden ermittelt, verrechnet und zur individuellen Erfolgswahrscheinlichkeit integriert. Die Erfolgsorientierung des Verfahrens gestattet, eine möglichst verlässliche Abschätzung der Überlebenszeit eines Transplantats zu berücksichtigen. Auch der Wert einer solchen Abschätzung ist in Punkten auszuweisen.

6. Vorrangregeln 2

Leidende mit besonderen physiologischen Eigenschaften (darunter hohe Immunisierung), welche Allokationschancen signifikant herabsetzen, geniessen Vorrang; desgleichen Kinder und Jugendliche im Falle einer Nierentransplantation.
Ebenfalls Vorrang geniessen wiederum
– Personen, deren Gesundheit für von ihnen unmittelbar Abhängige existenziell entschei-dend ist und die sich nicht ersetzen lassen;
– Personen, deren Lebenszeit wesentlich kürzer ist als diejenige ihrer Konkurrenten.

7. Vermeidung struktureller Diskriminierung

Abgesehen von einer Allokation im Zeichen der Dringlichkeit gilt das gleiche Recht auf elementare Lebenschancen uneingeschränkt. Die Nutzenorientierung impliziert strukturell die Möglichkeit, ältere, im Durchschnitt krankheitsanfälligere Personen zu benachteiligen. Wie weit dies auf die einzelne transplantationsbedürftige Person zutrifft, ist von Fall zu Fall zu ermitteln. Analog der Lösung für Leidende mit seltenen Gewebemerkmalen oder der Blutgruppe 0, ist es ethisch richtig, wenn älteren Transplantationsbedürftigen ein Vorrang eingeräumt wird – ein Vorrang, der nicht generell gilt, sondern durch einen Punkte-Bonus ausgedrückt und in den Erfolgskalkül integriert wird.

8. Wartezeit

Die Berücksichtigung der Wartezeit, ein anerkanntes, objektives, dem Prinzip der Chancengleichheit zuzuordnendes Kriterium, kommt erst hier zum Zuge. Ausschlaggebend für die späte Einreihung ist die Ausrichtung auf möglichst weitgehende, Aspekte der Billigkeit mit einbeziehende materiale Gerechtigkeit.

9. Vollzogene Lebendspende

Wer sich, aus welchen Gründen immer, für eine Organ-Lebendspende zur Verfügung gestellt hat, darf auf eine ausserordentliche Leistung im Transplantationssystem hinweisen. Sie mag einer sehr nahe stehenden Person zugute gekommen sein, es ziehen doch indirekt alle auf ein entsprechendes Organ bzw. einen Organteil Wartenden daraus Nutzen. Sind Lebendspendende nun selber einer Transplantation bedürftig geworden, verlangt das Fairnessprinzip ihre vorrangige Berücksichtigung. Betrifft das Leiden ein paariges Organ oder jenes Organ, von dem ein Teil gespendet wurde; lässt sich der Bedarf mithin direkt auf einen seinerzeit in Kauf genommenen Mangel bzw. auf eine Gefährdung zurückführen, begründet das Prinzip der Wiedergutmachung die Berücksichtigung, noch bevor die Wartezeit in Anschlag gebracht wird. Andernfalls begründet die supererogatorische Leistung, ceteris paribus, den Vorrang gegenüber einer Person auf gleicher Position in der Warteliste.

10. Spendebereitschaft

Bei gleicher Wartezeit, nicht also schon vor deren Berücksichtigung, erlaubt deklarierte Spendebereitschaft, aus Fairnessgründen, die Einräumung eines Vorrangs – im Nachgang freilich zu einem/r Lebenspender(in).

11. Los

Die Entscheidung dem Zufall zu überlassen ist, trotz hoher Praktikabilität und sicherer Verwirklichung formaler Gerechtigkeit, nur ultima ratio. Was in Allokationsprozessen auf dem Spiele steht, ist existenziell derart schwer wiegend, dass der Zufall erst auftreten darf, wenn die sittliche Kompetenz ausgeschöpft ist.

12. Retransplantation ist unbeachtlich

Der Bedarf einer Retransplantation ist als eigenes Allokationskriterium unbeachtlich. Ent-weder fällt die betroffene Person unter die Kategorie der dringlichen Versorgung, ist also gemäss Punkt 6.1 zu bedienen. Oder aber, bei nicht dringlichem Bedarf, ist sie wie jede(r) ordentliche Transplantationsanwärter(in) zu pflegen, wobei die Position auf der Warteliste dem Zeitpunkt des neuen Entscheids im Transplantationszentrum entspricht. Was differenzierter ausfallen muss, ist die Ermittlung der erhofften Erfolgsquote.