Macht und Verantwortung in der Wissenschaft

Zehn Thesen

  1. Moderne Wissenschaft ist programmatisch auf Machterwerb und Machtausübung ausgerichtet. (Ausgenommen sind die hermeneutisch-historischen sowie die auf Empanzipation und Verständigung ausgerichteten Kulturwissenschaften.)
  2. Wissenschaft besitzt bzw. vermittelt Macht, weil menschliches Dasein von ihren theoretischen und praktischen Leistungen abhängig ist. Dies gilt bezüglich der kulturellen
    wie der natürlichen Lebensbedingungen in gleicher Weise, also ebenso für sittliche
    Orientierung, Erhaltung der natürlichen Mitwelt, Wirtschaft und Politik.
  3. Wissenschaft arbeitet mit Verallgemeinerungen. Verallgemeinerungen kommen durch
    wertende Entscheidungen zustande. Sie implizieren Machtausübung, insofern sie das
    der Verallgemeinerung unterworfene Besondere nicht sein lassen, was es von sich aus
    ist. Ethisch zulänglich sind sie, soweit sie für Revision offengehalten werden: Wissenschaftliche Macht muss die Möglichkeit ihrer Aufhebung enthalten, um verantwortbare Macht zu sein.
  4. Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinde, welche die Grenzen ihrer Macht und ihrer Kompetenz nicht offenlegen, handeln so unverantwortlich wie Mitglieder, die ihren
    wissenschaftlichen Status – ein gesellschaftlich vermitteltes Gut – zur Verwirklichung
    vorab persönlich relevanter Interessen einsetzen. Dies gilt ganz besonders für Angehörige
    der ethischen Zunft.
  5. Aufgrund ihrer methodischen Regeln und Strenge kann Wissenschaft die Fähigkeit,
    ethische Entscheidungen zu treffen, beeinträchtigen: Die Macht der Wissenschaft ist
    sittlicher Praxis nicht ohne weiteres zuträglich.
  6. Die Sprache der Wissenschaft ist autoritär. Anderes als wissenschaftliches Sprechen gilt als irrelevant, wenn Wirklichkeit erschlossen und auf Wahrheit hin ausgelegt wird. Die Sprache der Wissenschaft ist wesentlicher Faktor ihrer Macht. Der Imperialismus, der sich mit wissenschaftlicher Sprechweise verbinden kann, muss aufgebrochen werden, soll wissenschaftliches Sprechen in seiner Ausrichtung auf universelle Geltung verantwortet werden können.
  7. Zu unterscheiden sind direkte und vermittelte Macht der Wissenschaft. Direkte Macht bekundet sich in der Veränderung von Werten und Ueberzeugungen sowie dessen, was gesellschaftlich als richtig gilt: Wissenschaft bekundet ihre Macht darin, dass sie unsere Lebensweisen umstellt. Verantwortbar ist sie dann, wenn Richtung und Ziele solcher Umstellung im Diskurs aller Betroffenen festgelegt werden.
    Die Macht der Wissenschaft ist insofern beschränkt, als sie vor allem dort zum Zuge kommt, wo sie wirtschaftlichen Nutzen zeitigt. Wissenschaftliche Macht ist vermittelt: Sie kann sich kaum entfalten, dient sie nicht wirtschaftlichen Interessen. Wissenschafter/innen sollten deshalb ihre Autonomie und ihren Einfluss nicht überschätzen, hinge- gen durch Aufklärung dafür sorgen, dass wissenschaftliche Macht nicht einseitig instru- mentalisiert wird.
  8. Macht in der Wissenschaft wird besonders auch in Institutionen der Forschungsförderung ausgeübt – durch Wissenschafter/innen selber. Deren Entscheide sind immer auch von persönlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Interessen begleitet. Die Qualität einer Förderungsinstitution steht und fällt mit der Fähigkeit der in ihr Tätigen, die eigenen Interessen und Ueberzeugungen zu erkennen und zugunsten von Interessen anderer: der Gesuchsteller und Gesuchstellerinnen, in den Hintergrund zu rücken. Dass stets nur objektive Entscheide bezüglich Zusprache oder Rückweisungen getroffen werden, lässt sich nicht voraussetzen. Auf institutionellem Wege (Rekurswesen) und über persönliche ethische Bildugn der Verantwortlicehn ist dafür zu sorgen, dass die Zahl unreflektiert voreingenommener Beschlüsse möglichst gering gehalten wird.
  9. Die Macht der Lehrenden ist unlösbar mit der Pflicht zur Förderung der Lernenden verbunden, mit der Pflicht also zum Abbau des Wissens- und damit Machtvorsprungs der Lehrenden. Wissenschaftliche Lehre muss immer auch Kontroverses erschliessen. Sie muss zu selbständiger Forschung befähigen, die sogar auf Widerlegung der vermittelten Inhalte zu zielen vermag. Gesellschaftlicher und statusbedingter Einfluss von Lehrenden ist zugunsten von Ausbildung udn Laufbahn der Lernenden zu nutzen.
  10. Macht in der Wissenschaft und Macht durch Wissenschaft sind ethisch zulänglich und verantwortbar nur unter der Bedingung, dass sie ihre eigene Begrenzung und mögliche Aufhebung einschliessen.

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