Wer über Tierwürde nachdenkt, um seine Einsichten in Gesetzesform zu giessen, ist gut beraten, sich zuvor auf Menschenwürde zu besinnen.
Menschenwürde als Verpflichtung
Menschenwürde ist nicht nur ein hoher sittlicher und politischer Wert, der Anspruchs- und Abwehrrechte begründet. Sie überbindet ihren Trägern auch die Pflicht, jene Rechte im eigenen Verhalten zu festigen. In säkularer Sicht gründet sie in unserer Befähigung, sittlich, nicht also ausschliesslich selbstbezogen zu handeln. Wo wir unsere Moralfähigkeit unterbieten, widerstreiten wir unserer Würde: Wir verletzen uns in dem, was uns, ethisch betrachtet, am höchsten auszeichnet.
Artübergreifende Humanität
Was das Verhalten von Menschen gegenüber Tieren angeht, dürfen wir für die Schweiz auf einen seit 1992 erstmals formell bezeugten Sprung in der moralischen Entwicklung hinweisen. Unser Land hat sich durch Verfassungsänderung (heute Art. 120 Abs. 2 BV) der Idee der artübergreifenden, Tiere und Pflanzen einschliessenden Humanität verpflichtet. Konsequent korrigierten Parlament und indirekt die Bevölkerung später einen Jahrhunderte alten Fehlgriff: Tiere wurden rechtlich zwar nicht zu Menschen gemacht, doch aber vom Joch des einfachen Sachstatus befreit.
Verstoss gegen die Menschenwürde
Man durfte deshalb erwarten, dass der Bundesrat diesen ethischen Fortschritt honoriert, wenn er dem Parlament eine Botschaft zur Revision des Tierschutzgesetzes unterbreitet. Diese Erwartung wurde leider enttäuscht; die Landesregierung verschrieb sich der „Maxime … , das Schutzniveau der Tiere in der Schweiz nicht zu erhöhen …“.1 Das Niveau und dessen ethischer Standard, die mit der Revision vom 22.3.1991 errungen worden waren, werden festgeschrieben. In erster Linie soll die re-vison den Vollzug der bisherigen Regelung verbessern.2 Der Bundesrat unterbietet damit willentlich und wider besseres Wissen3 die inzwischen gereifte Moralfähigkeit der Bevölkerung. Zu hoffen ist, das Parlament korrigiere diesen unbefriedigenden gouvernementalen Umgang mit dem Prinzip der Menschenwürde.
Problematische Grundhaltung
Art. 1 des Gesetzesentwurfs (E-TSchG) benennt den Zweck des Erlasses. Man ist versucht, die Formulierung des Bundesrates stehen zu lassen, um die weitere Diskussion zu entlasten – wenn bloss der Text das problematische Verständnis der Mensch-Tier-Beziehung, die ihm zu Gevatter steht, nicht so deutlich bezeugte, und dies trotz der Erläuterung in der Botschaft (S. 674). Des Menschen Verantwortung für das Tier dient der letzten Grundlegung, nicht die Würde des Tieres selbst; nur „angesichts“ dieser Verantwortung erscheint dessen Würde schützenswert. Dieser Würde fehlt die den Menschen unmittelbar verpflichtende Kraft – auch wenn Würde mit „Eigenwert des Tieres“ umschrieben wird (Art. 3 Bst. a.). Nicht philosophische Haarspalterei gibt Anlass zu dieser Bemerkung, sondern positiv-rechtliche Bestimmungen: Zwar führt Art. 3 Bst. a. neue Belastungen auf, welche sich mit der Würde des Tieres nicht vertragen. Doch diese Belastungen werden geduldet, wo menschliche Interessen überwiegen. – Zunächst ist anzuerkennen, dass E-TSchG die Güterabwägung für obligatorisch erklärt, also dem Würdekonzept entspricht. Doch bindet es diese Abwägung an einen derart unbestimmten Rechtsbegriff („überwiegende Interessen“), dass kein Anhalt für die Richtung, in der er auszulegen wäre, bleibt. Nahe liegt die Vermutung, menschliche Interessen genössen schlechthin Vorrang. Der Gedanke an Begrenzung, gar an Verzicht scheint hier nicht auf (was die Interpretation der Limite des „unerlässlichen Masses“ im Zusammenhang mit Tierversuchen nicht erleichtert4). Wie solide die Schranke ist, die mit der Umschreibung der Tierwürde durch „Eigenwert des Tieres“ errichtet wird, und wo überhaupt sie liegen könnte, bleibt unerfindlich.
Um diese Ungereimtheit zu vermeiden, wäre angezeigt, Art. 1 und Art 3 Bst. a. nochmals zu überdenken. Der Zweckartikel liesse sich mit Gewinn knapper fassen, in der Art wie es die Eidgenössiche Kommission für die Biotechnologie im ausserhumanen Bereich erwog: „Zweck dieses Gesetzes ist es, die Würde und das Wohlergehen des Tieres zu schützen.“ Jede Zweideutigkeit entfällt.
Die Grundsätze, die Art. 4 E-TSchG aufführt, spiegeln das oben kritisierte problematische Verhältnis5. Anders als vom Entwurf stipuliert, ist nicht zuerst den Bedürfnissen der Tiere bestmöglich Rechnung zu tragen; denn erst wenn feststeht, dass der Tiere Würde zu achten ist, erhält der Ausdruck ‚bestmöglich‘ Kontur (vgl. Art. 4 Abs. 1 Bst. a.). Nicht jeder (im E-TSchG : „der“) Verwendungszweck erlaubt, die Sorge für tierliches Wohlergehen einzuschränken (Art. 4 Abs. 1 Bst. b.), sondern nur ein Zweck, der sich unter Beachtung der Tierwürde verteten lässt. Das führt über den Verzicht auf Tier-versuche für Kosmetika, Waschmittel oder zum Austesten von Waffen(systemen) hinaus.
Die Tugend des unbestimmten Rechtsbegriffs
Nur scheinbar fällt die Kritik am unbestimmten Rechtsbegriff der überwiegenden Interessen auf den Begriff der Würde des Tieres zurück. Die beiden Begriffe unterscheiden sich. ‚Überwiegende Interessen‘ verweist auf eine nicht näher qualifizierte Vielheit von in Anschlag zu bringenden Gesichtspunkten; mit ‚Würde des Tieres‘ wird eine vielfältig und immer neu auszulegende, in sich jedoch einheit-liche Idee angesprochen. Der Einwand, ‚Tierwürde‘ bedürfe weiterer Konkretisierung, um rechtlich handhabbar zu werden, hält genauerer Betrachtung nicht stand. Gleich wie ‚Menschenwürde‘ fasst ‚Tierwürde‘ eine normative Vision (ein Ideal) ins Wort, die einen nicht abbrechbaren Prozess auslöst, welcher der jeweiligen Konkretisierung in der Bewältigung von konfliktträchtigen Situationen bedarf.6 Dieser Aufgabe dürfen sich weder Verwaltung noch Rechtsprechung entwinden.
Gerne sei betont, dass in dieser Sache Einklang zwischen der Botschaft und der hier vertretenen Position herrscht.7 Ein Blick in die jüngere Vergangenheit lehrt, dass Verwaltung und Gerichte sich der genannten Herausforderung erfolgreich gestellt haben. Belege finden sich in der Geschichte der Auslegung der Menschenwürde, konkreter der Grundrechte, speziell jenes der persönlichen Freiheit.8 Analog Grundrechten, fungieren die unbestimmten Rechtsbegriffe der Würde der Kreatur, der Würde des Tieres oder eben der Menschenwürde als Kennzeichen einer Gesellschaft, die „sich zu jener Durchlässigkeit entschieden“ hat, „die ihr zwar die Stabilität totalitärer Ordnungen raubt, ihr aber die Lebensfähigkeit eines Organismus gibt, der wechselnden Herausforderungen zu antworten vermag“.9
Zurückweisen oder selber bearbeiten
Es fehlt nicht an weiteren Punkten, in denen der Gesetzesentwurf – dessen unbestreitbare Verdienste hier übergangen werden müssen – hinter tierethisch motivierten Erwartungen zurück bleibt. Doch dürfte, was dargelegt wurde, ausreichen, die Empfehlung von A. F. Goetschel und G. Bolliger aus dem Spätwinter 2003 zu bekräftigen: das Parlament möge den Entwurf zur Neubearbeitung an den Bundesrat zurückweisen – oder, gestützt auf die Vorarbeiten, die Sache selber in die Hand nehmen, „wie bei der Genlex oder beim Gesetzesprojekt ‚Tier, keine Sache‘».
Andere haben zu Recht darauf hingewiesen, dass das Konzept der Tierwürde Bestimmungen zum prinzipiellen Lebensschutz auch für Tiere, mithin zur Begrenzung der Tötungserlaubnis erfordert, ebenso das Verbot, Wildtiere „für sog. therapeutische Zwecke“ einzusetzen. Dem Würdebegriff entspräche ohne Zweifel die obligatorische Einrichtung kantonaler Tieranwälte und –anwältinnen in Strafsachen.10 Die Beschränkung des Tierschutzgesetzes auf Wirbeltiere unterbietet erneut Anspruch und Verpflichtung von Art. 120 Abs 2 BV. Zwar räumt Art. 2 Abs 1 E-TSchG dem Bundesrat die Befugnis ein, die Geltung des Erlasses auf bestimmte Wirbellose zu erstrecken. Doch das ist logisch wie systematisch verkehrt: Der Schutz der Verfassungsbestimmung ist unbegrenzt, also dürfte der Bundesrat, wenn überhaupt, bloss festlegen, welche Tiere nicht unter das Gesetz fallen.
Der Einwand, die überwiegende Lebensführung in unserer Gesellschaft lasse derartige Bestimmun-gen als absurd erscheinen, krankt an der gleichen Schwäche wie jene Argumente, die gegen Albert Schweitzers Konzept der Ehrfurcht vor allem Leben ins Feld geführt werden. Er scheint nicht gelten zu lassen, dass wir seit langem damit befasst sind, auch im Rechtsleben die faktische Widersprüch-lichkeit unseres Daseins nach bestem Vermögen zu bewältigen. Bei der Revision des Tierschutzge-setzes sollten wir uns der existenziellen Aufrichtigkeit befleissigen , um so dem Anspruch unserer Würde zu entsprechen.
- Botschaft zur Revision des Tierschutzgesetzes vom 9. Dezember 2002, 02.092, S. 665.
- Ebd., S. 659 und 665.
- Am 5.11.1993 schrieb die ständerätliche Geschäftsprüfungskommission: „Tiere sind weder als Mensch noch als Sache zu behandeln, sondern gemäss ihrer Würde als Kreatur nach einem selbständigen Massstab ihrer eigenen Bedürfnisse. Dabei sind ihre Gefühle zu achten, ihre Leiden zu vermeiden oder zu vermindern, ihr Lebenswille zu achten. Dies führt beispielsweise zu einer restriktiven Tiernutzung.“ Zit. in ALTEX 20 (2003), Nr. 4, S. 239. – 1998 empfahl eine verwaltungsexterne Arbeitsgruppe unter der Leitung von NR Christiane Langenberger-Jaeger, das Schutzniveau der Tierschutzgesetzgebung zu erhöhen, u. a. auch die obligatorische Einführung kantonaler Tieranwälte und -anwältinnen im Strafrecht. Vgl. NZZ Nr. 99 vom 30.4.2002, S. 15; einprägsam auch A. F. Goetschel und G. Bolliger, „Weshalb neu, wenn nicht besser?“, in NZZ Nr. XXX vom 14.2.2003, S. XXX .<7a>
- Vgl. Art. 15 E-TSchG und die karge Erläuterung auf S. 678.
- Misst man die Würde des Tieres an der Würde des Menschen, gelangt man zu falschen Prämissen. Tierwürde ist als sie selbst, unabhängig von Entwicklungsniveaus oder vorgeblichen Mängeln, zu erfassen. Denn je höher man das Kriterium der Menschenähnlichkeit schraubt, umso weniger Tiere entsprechen diesem und bleiben noch Wesen im Bereich moralischer Verantwortung der Menschen. Und umso stossender wird der Widerspruch zur Vorschrift des schweizerischen Verfassungs-gebers. Vgl. G. M. Teutsch: Mensch und Mitgeschöpf unter ethischem Aspekt, in ALTEX 20 (2003), Nr. 4, S. 239.
- Das schliesst die Vorwegnahme typischer Situationen durch die Gesetzgebung nicht aus. Auch E-TSchG liefert dafür Beispiele, vgl. z. B., neben Art 3 Bst. a., Art. 4 Abs. 3 und Art. 15.
- Vgl. Botschaft S. 675, Erläuterung zu Art. 3 E-TSchG.
- Hierzu, für viele, J. P. Müller: Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie. Bern 1982, Kap. 1, bes. S. 21-23 und 26 f. Zusammenfassend A. F. Goetschel; Würde der Kreatur als Rechtsbegrriff, in: Die Würde des Tieres, hg,.v, M. Liechti. Erlangen 2002, 145 f.
- Vgl. Müller, Anm. 8, S. 5.
- So früher schon A. F. Goetschel, vgl. jetzt Anm. 3 und 7.
Prof. Dr. Beat Sitter-Liver
Professor für praktische Philosophie an der Universität Freiburg/Schweiz
Mitglied der Eidgen. Ethikkommission für die Biotechnologie im ausserhumanen Bereich EKAH